An erster Stelle steht immer die Liebe
10.6.2011, 07:00 Uhr„Darf ich einmal Ihre Uhr in die Hand nehmen? Sie bekommen sie garantiert zurück.“ Wolfgang Hund ist nicht an der Uhr als solcher interessiert, sondern an der Ausstrahlung, die ihre Trägerin im Lauf der Zeit an die Uhr abgegeben hat. „Ich sehe ... ein Haus, recht groß ... die Tür ist aus Eisen und geht schwer auf ... eine Wohnung mit einem Fenster auf einen Hof mit Bäumen ... und ein Bild mit vier Leuten drauf ... und ein kleiner schwarzer Hund dabei.“
Das also ist die Kunst der Psychometrie. Und, stimmts? Das Haus kann die Wohnung sein oder der Arbeitsplatz. Irgendeine Tür geht immer schwer auf. Familienfotos hängen in jeder Wohnung, und mit dem schwarzen Hund kann notfalls auch eine weiße Katze gemeint sein. Alles sehr allgemeine Angaben, aber in entschiedenem Tonfall vorgetragen. Aus dem diffusen Gewäsch ragen einige konkrete Angaben heraus. Die können zutreffen, oder auch nicht. Was zutrifft, das bestätigt den Zuhörer in der Ansicht, dass der Wahrsager Recht hat; was nicht zutrifft, das fällt aus dem Wahrnehmungsraster des Kunden.
Jeder genießt das Recht auf seine persönliche Dummheit
Wolfgang Hund ist kein Hellseher, sondern Zauberkünstler, Lehrer und Aufklärer in Sachen Wahrsagerei. Im Planetarium verriet er den Zuhörern die Tricks der Branche.
Obwohl: Die Menschen, die zum Wahrsager gehen, sind doch selber schuld, oder? Auch wenn sie ein Vermögen dafür hinblättern? Richtig teuer wird es, wenn ein Opfer vor Gericht die Summen zurückerstreiten will. „Bis vor kurzem hatten Gerichte keinerlei Mitleid mit Opfern von Wahrsagern“, bedauert Wolfgang Hund. „Da hieß es: ,Sie sind ein erwachsener Mensch, Sie haben ein Recht auf Ihre persönliche Dummheit‘. Doch vor drei Jahren sind die Gerichte umgeschwenkt.“
Hellseher sitzen längst nicht mehr im Wohnwagen auf dem Volksfest, sondern im Scheinwerferlicht vor laufender Kamera – in den Privatfernsehsendern nach Mitternacht. Meist rufen unglückliche oder labile Menschen aus bescheidenen Einkommensschichten an. „Wie kann ein wildfremder Mensch, der von Psychologie keine Ahnung hat, einem Unglücklichen aus der Misere helfen?“ fragt sich Hund. Nun: weil der Unglückliche nach jedem Strohhalm greift. Solche Notlagen auszunutzen, ist kriminell.
Wie wird man eigentlich Wahrsager? Oft steht am Anfang tatsächlich eine mysteriöse Erfahrung. Etwas im Traum Gesehenes wird einige Zeit später Wirklichkeit. Eine eher unwahrscheinliche Voraussage trifft wider Erwarten ein. Da mag sich manch einer für übersinnlich begabt halten. „Aber wer nach sechs Monaten immer noch dabei ist, ist ein Betrüger“, urteilt Wolfgang Hund.
Was macht einen erfolgreichen Wahrsager aus? Zunächst einmal Eloquenz. Hellseher beherrschen die Kunst, mit vielen Worten nichts zu sagen, das verbindet sie mit Politikern. Das beginnt schon beim Eröffnungsgespräch mit der Einschätzung des Kunden. Da fallen Charaktereigenschaften wie „rechtschaffen, herzlich, anpassungsfähig“, Eigenschaften, die jeder von sich gerne hören will. Garniert werden die Einschätzungen mit Worten wie „wahrscheinlich, möglich, könnte“, also Worte, die einen Spielraum zulassen. Wie überhaupt der Konjunktiv vorherrscht.
Hinzu kommen eine dicke Portion Menschenkenntnis und eine profilierte Bobachtungsgabe. Der Hellseher beobachtet sein Gegenüber, taxiert es nach Kleidung, Benehmen und Sprache. Vor allem aber gibt das Gegenüber beim Redefluss der Prophezeihungen unbewusst Signale, und sei es nur ein leichtes Kopfnicken. „Hanussen war ein Experte in diesen Dingen, der konnte an den Augen seiner Kunden ablesen, ob eine Aussage zutraf oder nicht“, erzählt Wolfgang Hund. Ist das nicht Hellseherei? „Nein, denn je nachdem, ob wir ,Ja‘ oder ,Nein‘ denken, verändert sich unser Blick.“ Und entlang dieser Körpersignale hangelt sich der Hellseher.
Kommt es nun zur Prophezeihung, so verfolgen die Wahrsager stets dieselbe Reihenfolge: An erster Stelle steht die Liebe, danach kommen Gesundheit und Geld. Der Kunde wird bestätigt, aber auch verunsichert. Gibt sich der Kunde unbewusst als eifersüchtig zu erkennen, schürt der Wahrsager die Eifersucht noch. „Ich sehe ... eine Frau, die ihrem Mann schöne Augen macht...“ Nun einen Ehekrach vorherzusagen, ist keine Kunst.
Der Wahrheitsgehalt der Aussagen hängt natürlich von Zufallstreffern ab. Manches trifft zu, anderes nicht. Eine Frage der Statistik. Hier nun kommt der Wille zur Selbsttäuschung ins Spiel. Wer viel Geld für eine Prophezeihung hinblättert, glaubt an das Gesagte, und will gar nicht wahrhaben, dass er einem Schwindel aufsitzt. Dazu garnieren viele Wahrsager ihr Stübchen mit Madonnen oder Jesus am Kreuz. Wer sich mit christlichen Attributen ausstaffiert, kann doch kein Lügner sein. Oder?
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