Das große Säuglingssterben
24.08.2011, 19:11 Uhr
Die Säuglingssterblichkeit war zu jener Zeit in Deutschland schon immer ziemlich hoch – auch in Nürnberg. Viele Familien aus der städtischen Oberschicht starben aus, weil aus einer Vielzahl von Kindern nicht einmal ein Knabe das Erwachsenenalter erreichte. Es war nicht ungewöhnlich, dass die vermeintlichen Nachkommen schon vor ihren Eltern das Zeitliche segneten. Man braucht nicht in Akten zu blättern, um dies zu erfahren: Ein Gang über den Friedhof von Sankt Johannis gibt einen Einblick in die hohe Säuglingssterblichkeit. Da findet man Grabplatten, links und rechts Vater und Mutter, dazwischen wie die Orgelpfeifen ein Dutzend Kinder, viele von ihnen tragen über ihrem Köpfchen ein Kreuzeszeichen. Das bedeutet, dass sie beim Tod der Eltern selber schon verstorben waren.
Von dem berühmten Nürnberger Verleger Anton Koberger (1440-1513) ist bekannt, dass er mit seinen beiden Ehefrauen insgesamt 25 Kinder zeugte, von denen allerdings nur zwölf ihre Jugendzeit überstanden. Der Familie Tucher wurden im 17. und 18. Jahrhundert insgesamt 270 Kinder geboren, von denen allerdings nur 139 die Volljährigkeit erreichten.
Die Mutter des größten Nürnbergers, Albrecht Dürer (1471-1528), Barbara, schenkte im Lauf von 24 Ehejahren achtzehn Kindern das Leben – wenn man wirklich so sagen darf, denn von diesen 18 Kindern reiften nur drei zu Erwachsenen heran: Albrecht und seine beiden Brüder. Aus der Ehe des Nürnberger Dichters Hans Sachs (1494-1576) mit Kunigunde Creutzer gingen sieben Kinder hervor, von denen nicht eines den Vater überlebte. Von dem Mundartdichter Johann Konrad Grübel (1736-1809), dem Sohn eines Flaschners, der selbst in diesem Handwerk tätig war, ist bekannt, dass von seinen vielen Kindern kein einziges mehr unter den Lebenden weilte, als er die Augen für immer schloss.
Die Säuglingssterblichkeit war in Deutschland sehr hoch, weil hier, vor allem in Süddeutschland, fast überhaupt nicht gestillt wurde. Bis 1866 stieg die Säuglingssterblichkeit infolge der Industrialisierung sogar noch an. Die Jahresarbeitszeiten waren sehr lang und gerade die Frauen, die am meisten Kinder hatten, waren am schlechtesten ernährt.
Viele Fabrikarbeiterinnen mit Kindern besaßen nicht die Zeit und sie waren nicht in der körperlichen Verfassung, ihre Kinder zu stillen, und sie waren sich offenbar auch nicht bewusst, welche Gefahren von den künstlichen Nahrungsmitteln für ihre Kleinkinder ausgingen. „Irrige Ansichten über den Nahrungswerth von Zuckerwasser und Fleischbrühe kommen bei Armen und Reichen nicht selten vor“, schrieb 1862 ein Nürnberger Amtsarzt. „Ältern glauben ihr Kind recht zweckmäßig zu ernähren, wenn sie ihm schon vom ersten Vierteljahr an zwei- bis dreimal täglich Fleischsuppe geben, ja eine sonst sehr tüchtige Hebamme kam auf den genialen Gedanken, ein neugeborenes Kind mit Kuhmolke ernähren zu wollen.
Zu jener Zeit war niedergeschrieben: „Die Fabrikarbeiterinnen, welche wahrhaft mütterliche Empfindungen für ihre Kinder empfinden, reichen Mittags und Nachts die Brust, und dieselben befinden sich wohl dabei. Leider ist die Zahl dieser nicht groß, und die meisten geben ihre Kinder in die Kost zur künstlichen Fütterung.“
Muttermilch war als Säuglingsnahrung sehr viel besser geeignet als Kuhmilch; aber nicht jede Mutter besaß genügend Milch, also griffen die Frauen zu Ersatzstoffen. Die meisten nahmen Zwieback oder Mehl, dazu Milch oder Wasser. In Nürnberg bestand, wie in vielen fränkischen Städten, eine Örtlichkeit, die Milchmarkt hieß – lange Zeit trug das ganze Viertel seinen Namen –, in der großen Stadt Nürnberg gab es deren sogar zwei, einen oberen und einen unteren: der obere war gleich innerhalb des Tiergärtner Tors, der untere dort, wo heute das Dürer-Denkmal steht.
Er heißt Milchmarkt, „weil die Bäuerinnen daselbst ihre Feilschaften, besonders Milch, zu verkaufen pflegten, und kommt bereits im 14ten Jahrhundert vor“, schreibt Christian Conrad Nopitsch 1801 in seinem Stadtführer. Die Bauern aus dem Umland brachten ihre Milch hierher und boten sie an; doch scheinen viele von ihnen auch durch die Gassen der Stadt gezogen zu sein, namentlich südlich der Pegnitz, und dort mit lauten Rufen ihre Produkte angeboten zu haben. Da vergingen in der Regel viele Stunden, ehe die Milch vom bäuerlichen Erzeuger zum Verbraucher kam, häufig in unreinlichen Gefäßen. In einem Bericht aus dem frühen 19. Jahrhundert an den Magistrat hieß es: „Der Rahm besteht großenteils aus bloßer Schlader (also aus Sauermilch) vermischt mit Schmutz.“
Kuhmilch heimischer Bauern war oft verdorben
Die Kuhmilch der Bauern aus der Nürnberger Umgebung war oft gepantscht, und gerade im Sommer, wenn die Kühe weniger Milch gaben, war die Versuchung groß, der Milch Wasser beizumischen, und das Wasser war meist mit einer Vielzahl von Erregern durchsetzt. Ein englischer Bakteriologe, Professor Blyth, schätzte um 1900, dass ein gutes Drittel der Milch verdorben war, bevor die Milch die großen Städte erreichte.
In Nürnberg wurden infolge von „oberpolizeilichen Vorschriften“ gemäß dem Reichsgesetz vom 5. Juli 1887 und einer Ministerialentschließung vom 20. Juli 1887 die Milchkontrollen streng gehandhabt. Fünf Jahre später wurde „eine neue Milchverkaufsordnung erlassen, in die erstmals auch die ‚keimfrei gemachte’ also pasteurisierte Milch einbezogen wurde“. Noch immer gab es Klagen über „die häufige Verunreinigung der Milch mit Kuhkot“, es wurde versucht, dies mittels „Gebrauch von Seihtüchern“ zu verhindern und mehr Milchkontrollen durchzuführen. Sie führten zu einer steigenden Anzahl von Strafanzeigen. Sehr viele Mütter, auch in Nürnberg waren es die meisten, stillten ihre Säuglinge nicht oder nicht lange genug. Dabei erkannten die Ärzte damals schon den Zusammenhang zwischen Nicht-Stillen und hoher Säuglingssterblichkeit. Theodor Escherich, ein aus Ansbach stammender Arzt, der sich auf Kinderkrankheiten spezialisierte – nach ihm ist das Bakterium Escherichia coli benannt – und in München über Säuglingsernährung forschte, bemerkte, dass bei den Flaschenkindern die Sterblichkeit vier- bis sechsmal, im Sommer sogar rund zehnmal höher war als bei den gestillten Säuglingen.
Noch in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts erlagen fast zwei Drittel aller verstorbenen Säuglinge Krankheiten des Verdauungstraktes. „Wie überall, fällt auch in Nürnberg das Maximum der Sterblichkeit in die Zeit der heißen Sommermonate“, schrieb ein Nürnberger Arzt. „In dieser Jahreszeit steigt die allgemeine Sterblichkeitskurve steil an, um mit dem Beginn des kühleren Wetters ebenso rasch wieder abzufallen.“ Je kühler ein Jahr, vor allem der Sommer, desto mehr Säuglinge kamen durch – und umgekehrt. 1896 war ein ziemlich feuchtes und kühleres Jahr – die Anzahl der unter der Diagnose ‚Brechdurchfall der Kinder’ Verstorbenen fiel von 323 im Vorjahr auf 155.
Mehr als ein Viertel starb im ersten Lebensjahr
Die Säuglingssterblichkeit nahm in Nürnberg nur langsam ab. Von hundert lebendgeborenen Kindern starben hier in den Jahren zwischen 1880 und 1908 im ersten Lebensjahr stets mehr als 20 Prozent, in einem Jahr (1886) sogar 33 Prozent; 1901 fiel diese Quote zum ersten Mal auf einen Anteil unter 20 Prozent. Selbst nach der Jahrhundertwende starben in einzelnen Jahren mehr als ein Viertel aller Neugeborenen im ersten Lebensjahr. Im Jahr 1909 starben hier 1854 Säuglinge im ersten Lebensjahr, im Jahr darauf waren es 1652 Säuglinge, davon waren 1014 nach Angaben der Mutter überhaupt nicht gestillt worden, es wurden 470 „teilweise“ und 168 „ganz gestillt“. Von den verstorbenen Säuglingen waren gut zwei Drittel (1120) vor ihrem Tod in ärztlicher Behandlung gewesen, ein knappes Drittel (532) war es nicht. 240 der Verstorbenen waren „in Pflege“ gewesen.
Die Säuglingssterblichkeit nahm im Deutschen Reich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ab, von 20,7 Prozent (1901) auf 16,2 Prozent (1910). Aber der heiße Sommer 1911 hinterließ in den Statistiken noch einmal seine Spuren: Die Säuglingssterblichkeit sprang hoch auf 19,21 Prozent. In Nürnberg war der Anstieg von 1911 (gegenüber 1910) nicht allzu dramatisch. Wenn man jedoch die heißen Sommermonate Juli und August gesondert mit dem Vorjahr vergleicht, dann zeigen sie ein erschreckendes Bild: Im Juli und August 1911 starben in Nürnberg fast doppelt so viele Säuglinge wie im selben Zeitraum des Vorjahres.
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