Familiengründung ohne Liebe und Leidenschaft
24.10.2016, 07:35 UhrAndrea ist 38 Jahre alt und beruflich erfolgreich. Von ihrem Partner hat sie sich getrennt. Sie ist eine zufriedene Single-Frau. In ihrer Freizeit beschäftigt sich die Nürnbergerin mit schönen Dingen, trifft sich mit Freunden zum Kaffee, besucht Konzerte, werkelt im Garten und geht wandern. Sie führt ein fast perfektes Leben, etwas Entscheidendes aber fehlt ihr zum wahren Glück: ein Kind. "Meine biologische Uhr tickt, das bedrückt mich", sagt die Akademikerin.
David beschreibt sich als Nichtraucher, jung geblieben, seine Interessen sind Musik, Natur und Sport. Nachdem er sich erst dem Studium und der Karriere gewidmet hat, will der Nürnberger endlich eine Vaterrolle übernehmen. Es gebe nichts Wertvolleres.
Statt noch länger, vielleicht sogar umsonst, auf die große Liebe zu warten, suchen Andrea und David unabhängig voneinander im Internet jemanden aus der Region, mit dem sie sich ihren Kinderwunsch erfüllen können. Eine Beziehung mit Liebe und Leidenschaft ist nicht geplant.
Zukunftsforscher Sven Gabor Janszky aus Leipzig sieht Co-Parenting "auf jeden Fall als einen neuen Trend". Nicht alle wollen schon zwischen 20 und 30 Jahren eine Familie, um Geborgenheit und Zugehörigkeit zu finden. "Viele ordnen den Wert der Selbstverwirklichung erst einmal höher ein, sehnen sich aber mit 40 Jahren doch nach einem Kind", so Janszky. Der Wunsch nach Familie verschiebe sich nach hinten. "Irgendwann stellt sich das Gefühl ein: Die Zeit wird knapp!"
Langer Kinderwunsch
Wer dann nicht zu den Glücklichen gehöre, die einen verlässlichen Lebenspartner haben, für den sei es ein logischer Schritt, über digitale Medien einen Partner fürs Kind zu suchen. "Das ist eben nicht der Mann meines Lebens, aber der Vater meines Kindes", so der Gedanke. Für diese Menschen sind Co-Parenting-Modelle die letzte Möglichkeit für eine Elternschaft. Das Grundbedürfnis bei vielen Menschen mit Ende 30 oder Anfang 40 ist seiner Ansicht nach nicht unbedingt, einen Partner zu finden, sondern endlich eine Familie zu haben.
Auch Homosexuelle wie Marina und ihre Freundin, die seit vier Jahren ein Paar sind, sehen in den Internet-Foren eine Möglichkeit, einen Vater für den ersehnten Nachwuchs zu finden, nachdem künstlichen Befruchtungen oder Adoptionen in Deutschland hohe rechtliche Hürden gesetzt sind. Der Papa in spe darf gerne auch schwul sein.
Wie quälend ein unerfüllter Kinderwunsch sein kann, aus welchen Gründen auch immer, erleben die Mitarbeiter von Pro Familia in Nürnberg jeden Tag bei ihrer psychosozialen Beratungstätigkeit. "Die Betroffenen stehen unter einem großen Druck", erläutert die Sozialpädagogin Christine Zant-Braitmayer. Oft sehnen sich die Ratsuchenden schon länger nach einem eigenen Kind, mit zunehmendem Alter verstärkt sich das Problem. Bei manchen klappt es einfach nicht, anderen fehlt der passende Partner. "Ich versuche, mit ihnen herauszufinden, was sonst noch Freude in ihrem Leben macht, damit die Sehnsucht nach einem Kind nicht ganz so bestimmend ist."
Noch immer sei es in unserer Gesellschaft schwer, offen darüber zu reden. Wenn der Nachwuchs ausbleibt, werde es als Makel empfunden. "Wer alleine mit seinen psychosozialen Problemen nicht zurechtkommt, sucht Hilfe bei uns", so Zant-Braitmayer. Durch die Gespräche lässt der Druck oft nach, manchmal klappt es dann doch noch mit dem Nachwuchs. "Ich krieg immer wieder Geburtsanzeigen zugeschickt", freut sich die Sozialpädagogin.
"Familie ist da, wo Kinder sind"
Wenn es am Partner für ein Kind mangelt, der Wunsch aber für Alleingänge groß genug ist, der sucht ihrer Erfahrung nach häufig im Internet nach Lösungen und wird rasch fündig. Es gibt Foren, in denen sich zum Beispiel Samenspender und Suchende zusammenfinden. Wer sich mit jemandem die Erziehungsverantwortung teilen möchte, versucht sein Glück bei Co-Parenting-Portalen. Sie boomen seit einigen Jahren in Amerika. Aber auch in Deutschland gibt es inzwischen Initiativen, allen voran die deutsche Organisation Familyship.org. Aktuell sind hier 3000 Nutzer gemeldet. Drei Viertel davon sind Frauen, ein Drittel Männer. Sie stammen vorwiegend aus Deutschland, aber auch aus der Schweiz und Österreich. "Meine Partnerin und ich wollten ein Kind. Aber es gab im Internet nur Samenspenderseiten. Das gefiel uns nicht", erzählt die "Familyship"- Gründerin Christine Wagner. So suchten die Frauen selbstständig im Netz nach einem potenziellen Vater für ihr Kind — mit Erfolg. Ihre Tochter ist heute im Kindergartenalter. Das freundschaftliche Verhältnis zum Vater funktioniert.
Da entschlossen sie sich, auch anderen Menschen mit Kinderwunsch einen Ort zu bieten, wo diese ungezwungen in Kontakt kommen können und riefen "Familyship" ins Leben. 17,50 Euro kostet es, sich bei der Online-Plattform anzumelden. Mit dem Geld werden die Kosten für Design und Unterhalt der Seite finanziert. Außerdem will man sicherstellen, dass sich nur Menschen registrieren, die wirklich interessiert sind. Überschüsse werden an soziale Organisation wie das Regenbogenzentrum Berlin gespendet.
Die Nachfrage zeige, dass sich die Gesellschaft neuen Familienformen öffnen müsse, findet Christine Wagner. "Familie ist da, wo Kinder sind." Die klassische Variante "Vater, Mutter, Kind" sei nicht mehr die allein gültige. Beim Co-Parenting würden sich Menschen ihre Sehnsucht nach einem "echten Wunschkind" erfüllen, ohne voreilige Beziehungen einzugehen, die womöglich nicht halten und die Beteiligten in eine Trennungskrise stürzen.
Häufig vertreten sind Akademikerinnen, die erst Karriere gemacht haben und merken, dass sie auf eigenen Nachwuchs doch nicht verzichten wollen. Entweder sie leben nicht in einer Beziehung oder legen keinen Wert auf emotionale Verstrickungen. Ähnliches gibt es laut Wagner auch auf männlicher Seite, aber etwas seltener. "Das sind oft Familienmenschen, die am Wochenende gerne Papa sein wollen, aber nicht sieben Tage die Woche 24 Stunden lang." Auch lesbische oder schwule Paare versuchen, auf diesem Weg ihre Vision von der glücklichen Regenbodenfamilie wahr zu machen.
Nicht überall Zustimmung
Die Rollen, die die Beteiligten übernehmen, wenn das Kind erst einmal da ist, differieren. Dass die Mutter immer die Mutter ist, versteht sich von selbst. Aber es gibt bei lesbischen Paaren die Möglichkeit, leibliche oder die Co-Mutter zu werden. Die meisten Männer — ob schwul oder hetero — wollen eine aktive Vaterrolle ausfüllen. Aber manche möchten nur einen unverbindlichen Kontakt zum Kind pflegen oder als Samenspender fungieren.
Die Idee der heilen Design-Familie, die sich für die Beteiligten so harmonisch anhört, stößt nicht ausschließlich auf Zustimmung. Die Kritik: Für Kinder sei es schwierig, wenn das Familienmodell stark von der Mehrheit abweicht und sie unter Gleichaltrigen in Erklärungsnot geraten. Co-Parenting sei Folge einer zunehmenden Ich-Kultur. Es stehe nur der Kinderwunsch der Erwachsenen im Focus, nicht wie sich die Kleinen in einem von echter Partnerschaft entkoppelten Familienkonstrukt fühlten.
Dr. Patrick Nonell, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Nürnberg befürchtet beim Co-Parenting noch etwas anderes, nämlich einen Verlust der Verbindlichkeit familiärer Bindungen. "Ein Kind ist darauf angewiesen, dass die Eltern die Verantwortung übernehmen. Es will wissen: 'Wer ist der Bestimmer?'" Selbst in einer zerbrochenen Familie sei die Verantwortlichkeit der Eltern für die Kinder gegeben. Man müsse sich zu seinem Wohl zusammenraufen, auch wenn es nur um Unterhalt geht. Jemand, den man im Internet kennengelernt hat, könne sich jedoch einfach aus dem Familienleben verabschieden.
Sympathie und Wertschätzung
Der Klebstoff zwischen den Erwachsenen ist nur der Kinderwunsch. "Wenn es hart auf hart kommt, haben sie wenig, was sie zusammenhält. Selbst die Kommunen in den 1960er Jahren hatten wenigstens ein Konzept für ihr Zusammenleben." Außerdem: Wer seine Verbindung nur über das Kind definiere, überfordere den Nachwuchs. "Das kann eine große Last für Minderjährige sein, die unterbewusst wahrgenommen wird", sagt Nonell.
Für Kinder sind emotional verlässliche Elternteile sehr wichtig, darin sind sich Kinder- und Jugendpsychiater einig. Dem Kind muss jederzeit klar sein, wo es hingehört. Diese Bedingung sehen manche in gut organisierten Design-Arrangements ähnlich gut erfüllt wie in Patchwork-Konstellationen. Die Hauptsache: Sie müssen von Sympathie und Wertschätzung getragen sein.
"Familyship" stellt exemplarische Fälle vor, die einen Einblick in Co- Parenting-Familien geben. So etwa den einer Mutter, die über die Plattform den Vater ihrer Kinder fand, aber schließlich doch die Zuneigung für ihn verloren hat. Sie lebt jetzt — glücklich, wie sie sagt — mit ihrem Nachwuchs alleine. „Diese Kinder sind meine Erfüllung. Oft sehe ich sie mir an, wie sie schlafen, schwatzen, streiten oder sich doof finden und weiß nichts in der Welt, das so kostbar ist.“
Und auch ein schwuler Mann schwärmt von seinem Leben als Vater: Er fand mit seinem Partner ein lesbisches Paar zwecks Familiengründung. Dann verliebte er sich in einen anderen Mann, mit dem er heute verheiratet ist, der Vorgänger gehört aber irgendwie trotzdem noch dazu. Der kleine Junge, der inzwischen geboren ist, hat drei Väter, zwei Mütter, vier Omas und drei Opas. Einer seiner Papas sagt: "Ich hoffe, dass jeder, der diesen Wunsch hegt, auch die Möglichkeit bekommt, Vater zu werden."Wie sein Sohn später darüber denkt, kann heute allerdings noch niemand sagen.
Keine Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen