Hochexplosive Stoffe mitten im Wohngebiet

28.3.2018, 12:10 Uhr
Heute ist die Munitionsfabrik ein Ort der sozialen Fürsorge. Das freundliche neubarocke Äußere ist, abgesehen von ein paar Kriegsverlusten, gut erhalten.

© Sebastian Gulden Heute ist die Munitionsfabrik ein Ort der sozialen Fürsorge. Das freundliche neubarocke Äußere ist, abgesehen von ein paar Kriegsverlusten, gut erhalten.

Eine Munitionsfabrik mitten im Wohngebiet? Das klingt brandgefährlich – und ist es auch. Viele werden sich an die katastrophale Explosion einer Fabrik für Feuerwerkskörper im niederländischen Enschede erinnern, die im Jahr 2000 23 Menschenleben forderte.

1915 ging man an solche Probleme recht unbedarft heran. Und so durfte die Rheinisch-Westfälische Sprengstoff-Actien-Gesellschaft (RWS) ihr Werk mitten im dicht bevölkerten Nürnberger Stadtteil St. Johannis nicht nur weiterbetreiben, sondern auch ausbauen. Gleich nebenan auf dem Kirchenweg donnerte die Straßenbahn vorbei, deren Erschütterungen das Hantieren mit explosiven Stoffen sicher nicht erleichterten. Dass die Fabrik unmittelbar neben dem Städtischen Krankenhaus – dem heutigen Klinikum Nord – lag, grenzt schon an Realsatire.

An der Aufrüstung für den Ersten Weltkrieg war die Fabrik nicht beteiligt. Sie fertigte zunächst nur Munitionshülsen und Zündnieten für Sportschützen – zumindest bis 1935, als wieder Krieg in der Luft lag. Und: Die Fabrik bestand lange vor dem Krankenhaus und den Wohnhäusern in ihrem Umfeld.

In den 1930er Jahren präsentierte sich die Munitionsfabrik im Nazi-Flor. Ab 1935 produzierte das Werk auch Patronen und Zündnieten für das Militär.

In den 1930er Jahren präsentierte sich die Munitionsfabrik im Nazi-Flor. Ab 1935 produzierte das Werk auch Patronen und Zündnieten für das Militär. © unbekannt

Bereits 1864 hatte Heinrich Utendoerfer dort eine Munitions- und Zündhütchenfabrik errichtet, die damals noch auf freiem Feld lag. 1889 wurde das Werk an die RWS verkauft und mehrfach erweitert, in Stadeln bei Fürth entstand 1896 ein Zweigbetrieb (heute Industriepark Stadeln).

Am 2. Januar 1945 beschädigten Fliegerbomben die Produktionsgebäude am Kirchenweg und an der Innenhofseite zur Penzstraße, ohne dass es über die unmittelbaren Bombenschäden hinaus zu verheerenden Explosionen gekommen wäre. Der Wiederaufbau erfolgte in vereinfachter Form.

Von den Zerstörungen weitgehend verschont blieben das hübsche Pförtnerhaus und das repräsentative Verwaltungsgebäude. Mit ihren schmucken Fassaden und Dachlandschaften bilden sie bis heute den krönenden östlichen Abschluss der Lobsingerstraße mit ihren gut erhaltenen Mietshäusern im Stil des Klassizismus, der Neorenaissance und des Nürnberger Stils.

Wie ein großbürgerliches Stadtpalais gebärdet sich der neubarocke Verwaltungsbau der Munitionsfabrik an der Lobsingerstraße. Ein Chörlein durfte nicht fehlen.

Wie ein großbürgerliches Stadtpalais gebärdet sich der neubarocke Verwaltungsbau der Munitionsfabrik an der Lobsingerstraße. Ein Chörlein durfte nicht fehlen. © Boris Leuthold

Wie die Bauherrin so war auch der Planer der Bauten von 1915/1916 ein Rheinländer, der jedoch persönliche Bindungen an Nürnberg hatte: Heinrich Müller-Erkelenz, 1878 in Worms geboren, hatte einen Teil seiner Architektenausbildung an der Pegnitz verbracht. Entsprechend dachte er daran, seiner Studienheimat Tribut zu zollen: Die neubarocke Prunkfassade an der Lobsingerstraße versah er mit einem hölzernen Chörlein.

Der Münchener Bildhauer Max Heilmaier (1869–1923) verzierte diesen und die Keilsteine der Hochparterrefenster mit Reliefs, die Kinder beim Spielen darstellen. An der als Pergola gestalteten Einfahrt an der Kreuzung Kirchenweg fallen die Baumassen ab und münden im Eckbau des Pförtnerhauses. Mit seiner halbrunden Schmalseite, dem Mansarddach und dem kecken Erker mit gedrehten Säulen und Welscher Haube erinnert es eher an ein idyllisches Landhäuschen als an das Empfangsgebäude einer Munitionsfabrik.

Frei nach dem Bibelzitat "Schwerter zu Pflugscharen" dient die Munitionsfabrik in unseren Tagen friedlichen Zwecken und beherbergt die städtische "Fachstelle für Wohnungsfragen und Obdachlosigkeit" sowie den Betriebsärztlichen Dienst des Klinikums Nord. So ist die freundliche, neubarocke Schale des Komplexes mit ihren Kinderfiguren heute mehr als nur Fassade.

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