Eine Generation in der Ausbildung verloren
In manchen Branchen hat die Zahl der abgeschlossenen Lehrverträge einen drastischen Einbruch erlebt.
21.6.2021, 19:16 UhrDie Initiative für Gewerbevielfalt, gegründet von "Das Telefonbuch", schlägt Alarm. In Nürnberg tut dies stellvertretend Constanze Oschmann, Geschäftsführerin von Müller Medien, die sich ehrenamtlich auch als Vizepräsidentin der Industrie- und Handelskammer (IHK) engagiert. "Corona wirkt wie ein Brennglas", sagt sie.
Dabei sei es keineswegs so, dass die Unternehmen nicht mehr ausbilden wollten. Im Gegenteil: "Derzeit haben die Mitgliedsbetriebe der IHK rund 300 offene Ausbildungsstellen gemeldet." Bei den Firmen, weiß sie, "ist viel Wille da. Die Mehrzahl sieht es als Selbstverständlichkeit für das Allgemeinwohl an, auszubilden."
Die Perspektive fehlt
Manchen Betrieben fehle in der Corona-Zeit zwar tatsächlich die Perspektive, vermutet sie, und auf manche Branchen wirke sich das Virus stärker aus als auf andere: "Bei Gastronomiebetrieben und der Hotellerie steht die Ausbildung gerade nicht an erster Stelle, die haben ganz andere Themen", fasst sie zusammen. Generell sei die Ausbildungsbereitschaft aber da.
Das bestätigt auch eine Umfrage der IHK. Die Frage, "wie viele Ausbildungsplätze werden Sie voraussichtlich 2021 im IHK-Bezirk zur Verfügung stellen?", beantworteten 54,3 Prozent mit "gleichbleibend", 10,1 Prozent sogar mit "mehr", sechs Prozent werden keine Ausbildungsplätze anbieten und 22,6 Prozent können noch keine Aussage machen.
Woran liegt der krasse Rückgang der Ausbildungszahlen im vergangenen Jahr? Grundsätzlich, so Oschmann, sei das kein durch die Pandemie neu entstandenes Problem. "Diesen Trend müssen wir leider schon seit einigen Jahren feststellen."
Das Virus habe diese Entwicklung aber beschleunigt. Viele Jugendliche hätten zum Beispiel noch keine ausreichende Vorstellung von Berufen, da durch Corona die Berufsorientierung an den Schulen kaum stattfand und scheinbar der Eindruck vorherrscht, dass aufgrund der Pandemie keine Ausbildungsstellen angeboten würden.
Spitzenreiter bei Bankkaufleuten
Doch dem ist mitnichten so. Claudia Sigl, Leiterin Personal bei der Sparkasse Nürnberg, etwa betont: "Wir haben vor, bis auf Weiteres bei der gleichen Anzahl an Ausbildungsplätzen wie im letzten Jahr zu bleiben." Stand Juni 2021 sind es 128 junge Menschen in den verschiedenen Lehrjahren. Gut 30 davon werden im Juli fertig, im September starten rund 50 Neue. Das Kreditinstitut bietet damit die meisten Ausbildungsplätze im Berufsbild Bankkauffrau beziehungsweise -mann in Nürnberg und im Nürnberger Land an.
Es ist laut Sigl allerdings durchaus schwieriger geworden, neue Auszubildende zu finden. Die Ursachen dafür seien vielschichtig. "Die Abiturientenquote ist nach wie vor sehr hoch und der Anteil der jungen Menschen, die direkt zum Studium gehen, ebenso", berichtet die Personalfachfrau. Damit seien grundsätzlich weniger potenzielle Bewerberinnen und Bewerber um Ausbildungsplätze am Markt.
"Dann gibt es in Deutschland über 300 verschiedene Berufsausbildungen. Das erleichtert den Absolventen die Entscheidung nicht wirklich", sagt Sigl. Oft gönnten sich Schulabgänger außerdem noch eine Orientierungsphase oder Auszeit, was die Anzahl an potenziellen Interessentinnen und Interessenten ebenfalls reduziere.
Im Ranking aller Ausbildungsberufen, so Sigl, liege Bankkaufmann beziehungsweise -frau unter den 20 beliebtesten. "Einen höheren Rückgang als bei anderen Berufen kann man meines Erachtens nicht nachvollziehen, bei den Nürnberger Zahlen können Sondereffekte enthalten sein", ist deshalb ihre Vermutung.
Auch Sabine Janßen vom Buchhaus Thalia in der Nürnberger Innenstadt kann den extremen Einbruch für ihr Haus jedenfalls nicht bestätigen. Ein Rückgang um zwei Drittel im Vergleich zum Jahr 2019 ist in der Statistik des Bibb bei den Buchhändlern aufgeführt. Betrachtet man jedoch die absoluten Zahlen, relativiert sich das Ergebnis: Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge sank von neun (2019) auf drei (2020).
Zwei davon hat Filialleiterin Janßen in ihrem Haus abgeschlossen. "Wir haben insgesamt sechs Azubis", berichtet sie. "Und wir werden die Ausbildungsstellen auch 2021 wieder besetzen." Doch auch sie führt an: "Wir haben zwar eine Menge Bewerbungen, aber die Qualität muss passen."
Will heißen: "Zu sagen, ich lese gerne, daher will ich Buchhändler werden, reicht leider nicht." Voraussetzung für die Ausbildung ist das Abitur oder Fachabitur. "Wir sind ein großes Haus, unsere Azubis müssen daher eine gewisse Selbstständigkeit und Souveränität haben", betont Janßen.
Leichte Sorgenfalten
Für seinen Beruf, der in der Statistik einen Zuwachs von 67 Prozent vorweist, hat Sanitär-, Heizungs- und Lüftungsbaumeister Cengiz Sahin von der Firma Flossmann & Grünbeck trotzdem leichte Sorgenfalten – Stichwort: Fachkräftemangel. "Wir haben durch Corona im Prinzip eine ganze Generation verloren." Denn bei den Jugendlichen, so seine Erfahrung, sei der Schreck durch die Pandemie groß gewesen. "Viele haben vermutlich gedacht, es fände keine Ausbildung statt."
Zudem herrsche oft ein ganz falsches Bild von bestimmten Berufen: "Früher hat ein Klempner, sehr vereinfacht gesprochen, Leitungen von A nach B verlegt", illustriert Sahin. Kaum jemand wisse zum Beispiel, dass man mit der heutigen Technologie durchaus in der Lage sei, ortsunabhängig die Heizungsanlage oder auch die erwünschte Raumtemperatur von der Ferne aus zu steuern.
"Das zeigt uns, dass der Wandel auch im Bereich der Gebäudetechnik – Stichwort Spengler – nicht spurlos vorbeigegangen ist, sondern das neue Berufsbild Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik mit der Technologie unserer Zeit bei Weitem mithalten kann", erklärt Sahin.
Sieben Azubis lernen gerade bei Flossmann & Grünbeck, zwei werden im Sommer fertig. "Wir stellen sicherlich auch im Herbst wieder zwei neue Lehrlinge ein", so Sahin. "Das sehen wir als unsere gesellschaftliche Verantwortung an; wir müssen selbst unseren Nachwuchs schaffen."
Doch wie lassen sich die Jugendlichen erreichen? Constanze Oschmann ist nicht nur überzeugt, sondern begeistert von der Arbeit, die die IHK hier leistet: "Dort ist man extrem engagiert, bewegt, unterstützt und klärt auf", lobt sie. Und setzt auf moderne Kommunikation und Wege. Mit "Speed Datings" etwa oder mit dem sogenannten Karriere-Kick am 17. Juli, bei dem potenzielle Azubis gegen die Personaler der beteiligten Firmen zum Aufwärmen kickern können, bevor es ins gemeinsame Gespräch geht.
"Und auch Unternehmen sind gefordert, neue Wege zu gehen, um die Jugendlichen besser abzuholen", findet Oschmann. Die Sparkasse hat diesen Weg schon eingeschlagen: "Wir bieten zum Beispiel digitale Praktika an, bei dem interessierte Schülerinnen und Schüler über einen Messenger Dienst ,live’ die Arbeitswelt von Azubis begleiten und Fragen stellen können", berichtet Personalleiterin Claudia Sigl.
Nur ein Zehntel versorgt
Eine letzte, erschreckende Zahl wirft Oschmann in den Raum: "Stand Mai 2021 haben erst zehn Prozent der diesjährigen Schulabgänger der Mittelschulen in Nürnberg einen Ausbildungsplatz." Oschmann macht trotzdem Mut: "Meist ist es nicht allein entscheidend, was man fachlich schon drauf hat, sondern auf die Einstellung kommt es an", weiß sie. Motivation und Interesse also sind wichtig. Außerdem könne gar nicht oft genug betont werden: "Man kann auch Karriere machen, wenn man nicht studiert hat, mit einer guten Ausbildung stehen alle Wege offen."
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