Inklusion als frommer Wunsch
21.05.2016, 19:09 UhrKindern mit Handicap stehen alle Rechte der Konvention zu, sie sollen ein „gutes Leben führen und aktiv am sozialen Leben teilnehmen“ können. Silvia Knipp-Rentrop (43) und Claudia Börschlein (50) sind Mütter von Töchtern mit Behinderung. Sie haben die Erfahrung gemacht: So weit ist unsere Gesellschaft noch lange nicht.
Silvia Knipp-Rentrops Tochter war neun Jahre alt, als die Diagnose stand: Lena hat eine sensomotorisch-perzeptive Störung. Hinter dem komplizierten Begriff verbergen sich Probleme mit dem Gleichgewicht und eine Lernbehinderung. Der Befund war eine Erleichterung, die Eltern hatten endlich schwarz auf weiß, was sie vorher nur fühlten: Dass Lena langsamer ist als andere Kinder. Dass "der Pfeffer fehlt". Lena machte erst mit 18 Monaten die ersten Schritte.
Alle, auch die Erzieherinnen im Kindergarten, wollten die Eltern beruhigen: Ihr müsst mit Lena nur mehr üben, das wird schon. Knipp-Rentrop ist selber Sozialpädagogin, doch für die eigene Tochter hatte sie kein Rezept. Dafür jede Menge Druck, sie nicht genug zu fördern. Im Kindergarten sei ihre Tochter der "Exot auf dem Einzelintegrationsplatz" gewesen. "Das Maß der Integration bestand darin, dass sie dort sein durfte, darüber ging es nicht hinaus", bedauert die 43-Jährige. Sie hätte sich gewünscht, dass die Erzieherinnen mit den Kindern über Lenas Anderssein sprechen. Etwa darüber, dass sie manchmal zu fest zupackt und das andere Kinder erschreckt. Doch das taten sie nicht.
Lena kann nur lernen, wenn sie wenig Ablenkung hat. Sie muss sich hinlegen können, wenn ihr schwindelig wird. In die normale Grundschule hätte sie ihre Tochter nicht guten Gewissens schicken können, sagt Knipp-Rentrop. "25 bis 30 Kinder pro Klasse, kein zusätzliches Personal oder mehr Zeit - das kann nicht funktionieren." Auf dem Papier haben behinderte Kinder in Deutschland das Recht, eine Regelschule zu besuchen. "Doch das Recht auf Inklusion muss auch mit personellen und finanziellen Ressourcen gefüllt werden", fordern Knipp-Rentrop und ihre Nachbarin Claudia Börschlein, deren Töchter eine Klasse im Förderzentrum für Körperbehinderte in Sündersbühl besuchen. Weit weg von Moorenbrunn, wo die beiden Familien wohnen. Weit weg von früheren Freunden aus der Nachbarschaft. In jedem Stadtteil eine Regelschule, die behinderte Kinder gut betreut - das wäre der Wunsch der Mütter.
Im Privaten höre das mit der Inklusion dann total auf, sagen sie. Beispiel Sportvereine: "Wenn die Kinder klein sind, können sie noch mitmachen, später nicht mehr." Lena besuchte eine inklusive Judo-Gruppe. Während die Kinder ohne Handicap mit dem Alter in andere Gruppen wechselten, blieben die Kinder mit Handicap zurück. "Dann trainierten sie mit zehn Jahren zusammen mit Fünfjährigen, das hat mit Inklusion nichts zu tun", schimpft Knipp-Rentrop.
Auch Jugendzentren seien mit behinderten Kindern überfordert. "Unsere Töchter saßen allein bei den Erziehern, weil die anderen nicht mit ihnen spielten." Knipp-Rentrop und Börschlein machen aber weder den anderen Kindern noch den Regelschulen einen Vorwurf. Inklusion müsse politisch gewollt sein. "Wenn alle Kinder von Anfang an zusammen spielen und lernen, gibt es keine Berührungsängste mehr."
Börschleins Tochter Julia litt als Kleinkind unter Niereninsuffizienz. Nach einer Transplantation ging es ihr besser, dann verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand plötzlich dramatisch. Sie hörte auf zu sprechen, konnte nur noch mit Hilfe gehen. Börschlein bedauert, dass die 16-Jährige von den Lehrern im Förderzentrum dazu genötigt wird, einen Rollstuhl zu benutzen. "Sie sollte auch dort das Gehen üben dürfen."
Julia hat seit der fünften Klasse einen Schulbegleiter. Der Kostenträger, der Bezirk Mittelfranken, habe den jetzt ausgetauscht. Was für Julia eine harte Umstellung sei, "es wäre schön, wenn wir ein Mitspracherecht hätten". Schließlich sei der Schulbegleiter eine wichtige Vertrauensperson. Mehr Sensibilität bei Kostenträgern und Krankenkassen – das wünsche sich die beiden Mütter sehr. Als zynisch empfand Silvia Knipp-Rentrop die Aussage einer Mitarbeiterin des Bezirks bei einer öffentlichen Veranstaltung, dass Eltern doch die Wahl zwischen Regelschulen und Förderzentren hätten. Dass sich so viele für Letztere entscheiden, spreche doch für deren Qualität. "So wie Inklusion derzeit umgesetzt wird, haben wir aber eben genau keine Wahl."
Im letzten Jahr dachte die 43-Jährige darüber nach, ob Lena auf eine Regelschule wechseln sollte. Doch eine Schulpsychologin der "Beratungsstelle Inklusion" des staatlichen Schulamts habe ihr klar und deutlich gesagt: Wollen Sie eine soziale Integration, dann versuchen Sie es. Wollen Sie aber die bessere Unterstützung im Unterricht, dann lassen Sie Lena im Förderzentrum. Regelschulen mit großen Klassen und ohne zusätzliches Personal könnten die nicht leisten.
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