Manche Kinder wollen am zweiten Tag "Mama" sagen

28.02.2018, 08:00 Uhr
Manche Kinder wollen am zweiten Tag

© Archivfoto: Horst Linke

Irmgard Claußen klickt sich am Laptop durch eine ganze Reihe von Fotos. Bei einem Bild bleibt sie hängen: Jonathan (Name geändert). Der Zweijährige sitzt auf einem Hochstuhl, ein Lätzchen um den Hals, die Augen geschlossen, als würde er schlafen. Jonathan hat sich ausgeklinkt.

So sei er bei ihnen angekommen, erzählt Irmgard Claußen. Sprachlos, Augen zu — das sei seine Strategie gewesen, um die Grausamkeiten auszublenden, die er in seiner eigenen Familie erlebt hat. Seine Eltern waren heillos überfordert, das Kind wurde sich selbst überlassen. Am Ende schritt das Jugendamt ein.

Irmgard Claußen sitzt in einem sonnendurchfluteten Wohnzimmer in einem hübschen Haus in Thon. Über 40 Kinder sind hier schon ein- und ausgegangen. Unterernährte, die mit der Hälfte des eigentlich üblichen Gewichts kamen, und schwer Vernachlässigte, die sich im Alter von 15 Monaten noch nicht einmal drehen konnten. "Nach vier Monaten bei uns ist er gelaufen", sagt die 62-Jährige und zeigt wieder auf ein Foto. "Das ist das Schönste, wenn man sieht, wie ein Kind aufblüht in kurzer Zeit. Das gibt einem sehr viel."

Eine Babywippe steht neben dem Sofa, oben im ersten Stock warten Stubenwagen und Wickeltisch. Es gibt Bücher, Kuscheltiere, einen Kaufladen. Alles ist bereit. Jeden Moment kann das Telefon klingeln. Dann geht Irmgard Claußen los, nimmt wieder ein Kind in Empfang, um ihm ein Zuhause auf Zeit zu geben.

Seit 16 Jahren nehmen sie und ihr Mann, die gemeinsam vier eigene Kinder großgezogen haben, fremde, schwer traumatisierte Kinder bei sich auf. Manchmal für wenige Tage, manchmal für zwei Jahre. Sie integrieren die Kinder in ihren Alltag, nehmen sie mit in den Urlaub oder auf Familienfeiern.

Weshalb sie das tun? "Familie ist für mich ein ganz großer Wert", sagt die Sozialpädagogin. Sie hat früher selbst ein Kinderheim geleitet, doch sie wollte lieber zu Hause bleiben und zu Hause arbeiten. Seitdem macht sie Kindern, die in ihrem jungen Leben bereits durch die Hölle gegangen sind, "ein Bindungsangebot" und bietet ihnen "einen sicheren Ort".

Die Stadt Nürnberg geht bei der Betreuung von Babys und Kleinkindern, die aus ihrer Familie genommen wurden, einen anderen Weg als viele Kommunen. Null- bis Dreijährige werden nicht bei Laien-Familien untergebracht, sondern in Familien von Fachkräften, also bei Erzieherinnen oder Sozialpädagogen. "Das ist die beste Wahl", sagt Bernd Kamm vom Kinder- und Jugendnotdienst. "Es braucht eine professionelle Sicht auf das Kind."

Familiäre Bereitschaftsbetreuung nennt sich das Konzept. Es ist dann auch nicht wie Vollzeitpflege auf Dauer angelegt. Es ist eine Form der Krisenintervention, wenn Kinder vom Jugendamt in Obhut genommen werden müssen, weil sie in Gefahr sind. Im Schnitt bleiben die Kinder laut Jugendamt drei Monate bei der Bereitschaftspflege. Etwa die Hälfte wird danach dauerhaft in eine andere Pflegefamilie vermittelt, die übrigen können zu ihren Eltern zurück.

Manche Kinder wollen am zweiten Tag

© Stefan Hippel

18 Familien wie die Claußens arbeiten aktuell mit dem Jugendamt zusammen, auf freiberuflicher Basis. Es sind zu wenige. "25 bräuchten wir, um den Bedarf zu decken", sagt Kamm. Die Konsequenz: Sogar Kinder, die noch nicht einmal drei sind, landen in der Kindernotwohnung des Jugendamts, also im Kinderheim, wo sie keine feste Bezugsperson haben, sondern je nach Dienstplan wechselnde Betreuer. Der Mangel an Fach-Pflegefamilien wird sich sogar weiter zuspitzen, weil viele von ihnen langsam ins Rentenalter kommen und ans Aufhören denken.

Neue Familien zu gewinnen, ist schwer. Es gibt keinen Feierabend, die Bezahlung ist für viele nicht besonders attraktiv. 76 Euro erhalten Familien wie die Claußens am Tag, inklusive 18,50 Euro für den Lebensunterhalt des Kindes. Wenn es nach Kamm ginge, bekämen sie mehr Geld.

Irmgard Claußen hält die Bezahlung dann auch für "lächerlich". Wegen des Geldes brauche man das nicht zu machen, sagt sie.

Momentan nimmt sie nur Kinder im Alter von maximal einem Jahr auf, weil die leichter in den Alltag zu integrieren sind als Zweijährige. Wobei einem auch Babys, die sich wochenlang die Lunge aus dem Leib schreien, weil sie auf Drogen- oder Alkoholentzug sind, ordentlich zusetzen können. "Man braucht schon eine hohe Leidensfähigkeit", sagt Gottfried Claußen (56), der selbstständig ist und die Entscheidung seiner Frau mitträgt.

Die Claußens haben klare Grenzen verabredet. Das Ehebett zum Beispiel ist für Pflegekinder tabu. Aber natürlich bauen sie zu jedem neuen Kind eine Beziehung auf – im Wissen, dass sie es irgendwann wieder loslassen müssen. "Diese Gratwanderung ist ganz schwer", fährt Gottfried Claußen fort. Zumal sich die Kinder selbst an sie binden wollen. Manche wollen nach zwei Tagen "Mama" sagen.

Bei einigen Kindern ist die Familie heilfroh, wenn sie wieder weg sind. Daraus macht sie keinen Hehl. Andere wachsen ihr so ans Herz, dass sie diese am liebsten bei sich aufnehmen würde. Dann erinnert sich das Paar an den Schwur, den es geleistet hat, nämlich kein Kind zu behalten, "sonst haben wir am Ende zehn".

"Es ist ein Kraftakt, die Kinder wieder loszulassen", weiß auch Sozialpädagogin Ursula Heindel vom Jugendamt, die die Eltern betreut. "Zwei Tage lang habe ich ganz nah am Wasser gebaut", meint Irmgard Claußen.

Am leichtesten kann die Familie loslassen, wenn sie weiß, dass es ihrem Schützling gutgehen wird, weil eine tolle Dauer-Pflegefamilie gefunden wurde oder die Eltern wieder in die richtige Spur zurückgefunden haben. Umgekehrt fällt es den Claußens am schwersten, wenn sie mit der Entscheidung des Familiengerichts hadern oder bei der neuen Pflegefamilie kein gutes Gefühl haben — und ein Kind später fragt: "Irmgard, warum hast du mich damals alleingelassen?"

Jonathan geht es heute gut. Er lebt seit vielen Jahren in einer Pflegefamilie, zu der die Claußens noch Kontakt haben. Irmgard Claußen zeigt ein aktuelles Foto. Jonathan, mittlerweile ein Schulkind, grinst fröhlich in die Kamera.

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