Mit der Isetta über die Alpen - Autobiografien schreiben lernen
11.01.2010, 00:00 Uhr
Jedesmal hörten Kinder und Enkel mit roten Ohren zu und schworen sich: «Das müssen wir unbedingt aufschreiben!» Und eines Tages war die Oma gestorben, die Erzählungen verblassten im Gedächtnis ihrer Nachfahren.
Autobiografien schreiben nur Literaten und Prominente, die Lebensgeschichte der kleinen Leute gerät unbesungen in Vergessenheit? Nein, das muss nicht sein. Seit dem Jahr 2006 bietet die Evangelische Stadtakademie im Haus eckstein den Kurs «Zeitschreiber» an. Die Zeitschreiber sind allesamt Menschen in der zweiten Lebenshälfte, die unter professioneller Anleitung ihre Erinnerungen zu Papier bringen.
Erika Enslein-Löhlein (70) ist eine Zeitschreiberin der ersten Stunde. Als sie den ersten Info-Abend besuchte, war der Andrang so groß, dass sie ein Gelübde ablegte: «Komme ich rein in die Gruppe, dann lerne ich auch Computer!» Erika schaffte es in die 16-köpfige Gruppe, legte sich den Computer zu, und schrieb munter drauflos.
Eine Badewanne für die ganze Familie
Vergangenheitsverklärung ist ihre Sache nicht: «Früher war alles besser – von wegen!» Eine glückliche Kindheit im Böhmer Wald trotz Krieg; das Durchwursteln in den Nachkriegsjahren; die Ausflüge in die Fränkische Schweiz und das Glück des ersten Italien-Urlaubs – das sind Dinge, die sich in den Ohren der nachgeborenen Zuhörer unspektakulär anhören. Enkel wundern sich über den tiefen Genuss einer Limonade oder schütteln den Kopf über das mitgeschleppte Brikett für den Schulofen und grausen sich vor dem Bad am Samstag: eine Wannenfüllung für die ganze Familie! Aber so mager waren die Zeiten. In solchen Schilderungen spiegelt sich Zeitgeschichte. Krieg, Vertreibung und notdürftige Etablierung – das sind die prägenden Erlebnisse der Zeitschreiber. Deren Gros ist zwischen 1940 und 1945 geboren; die Ältesten sind fast achtzig, die Jüngsten Mitte vierzig.
Weitere prägende Eindrücke sind Besuche in der DDR mit abschließendem Mauerfall, sowie der erste Urlaub: etwa mit der Isetta über die Alpen, das erste Eis an der Riviera und die Panne in der Pampa. «Allerdings geben wir nicht Themen vor, wie ,Schreibt über das Kriegsende!‘, erklärt Susanne Heyer, die Leiterin der Stadtakademie. «So etwas können die nachgeborenen Jahrgänge gar nicht leisten. Stattdessen fordern wir auf, über einen Verlust oder ein besonderes Erlebnis zu schreiben.»
Klar, der Krieg prägt die Generation. Beim Schreiben treten auch so manche Erinnerungen zutage, die bis dahin unter Verschluss lagen. Erika Enslein-Löhlein hat bedrückende Episoden ihrer Lebensgeschichte bewusst ausgespart. «Vielleicht schreibe ich später einmal darüber.» Susanne Heyer sieht das Schreiben nicht als Therapie, aber als Lebensversöhnung: «Der Mensch hat in seinem Leben große und kleine Katastrophen zu überstehen. Vieles verdrängt er, auch weil der Lebensalltag dies erfordert. Wenn man später Zeit hat und zurückblickt, dann betrachtet man das Ereignis aus der Distanz. So war das Desaster. Wie ging es weiter? Wo war die Kraft, neu zu beginnen?»
Für wen schreiben die Zeitschreiber? Vor allem für sich selbst, in zweiter Linie für Freunde und Familie, in dritter Linie für Altersgenossen, aber auch für Jüngere und Schulkinder. Manch eine (Frauen sind in der Überzahl) hat sich Ringbücher angefertigt oder ein Buch gebunden. Erika Enslein-Löhlein empfing ihre Memoiren als Buch (Auflage 20 Stück) aus der Hand ihrer Tochter.
Schwafeln ist verpönt. Keine Episode darf zwei DIN-A-4-Seiten überschreiten. Platzt der Stoff aus allen erzählerischen Nähten, verteilen die Autoren die Fülle des Erlebten auf zwei oder drei Episoden. Bis jetzt bleiben sämtliche Erzählungen im privaten Rahmen. Doch Susanne Heyer träumt davon, eine Hör-CD mit ausgewählten Lebensepisoden herauszubringen.
Info-Abend für die nächste Zeitschreiber-Staffel am 22. Januar, 17 – 19 Uhr im Haus eckstein.
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