Mit Trauer und Freude leben
30.10.2020, 19:32 UhrHinterbliebene gehen ans Grab und zünden Kerzen an: Allerseelen ist der Tag des Erinnerns und der Trauer. So findet beispielsweise traditionell in der Frauenkirche am 2. November ein Gedenkgottesdienst statt. In der evangelischen Lorenzkirche wird zum Ewigkeitssonntag, am 22. November, der Verstorbenen gedacht. Für manche ist dies tröstlich, andere wollen, dass der Schmerz aufhört. Trauer kann man doch verarbeiten, heißt es dann. Aber wie? Die Münchnerin Cornelia Klaila schrieb Briefe an ihre Zwillingsschwester, als diese mit ihrem Ehemann und Baby tödlich verunglückte. Wir sprachen mit der 53-jährigen Autorin über "Ein einziger Tag" und andere Bücher, die sich mit dem Thema auseinandersetzen.
Frau Klaila, Sie sind in einem Alter, in dem man nicht oft zu Beerdigungen geht. Sie haben sich bislang häufiger als andere von Ihnen sehr nahestehenden Menschen verabschiedet. Hat Sie das verändert?
Das hat es sicher, auch wenn ich das vielleicht gar nicht wollte, so wie jede Erfahrung den Menschen verändert. Vielleicht messe ich das Leben eher an seinen Abgründen und schätze deshalb die Höhen eher. Ich bin ungnädiger, aber auch gelassener. Mir ist viel bewusster, dass man sein Leben nur einmal lebt.
Ihre Zwillingsschwester war 37 Jahre alt, als sie verunglückte, Ihr Neffe war noch nicht einmal ein Jahr alt. Kann man Unerträgliches ertragen und irgendwann wieder glücklich sein?
Ich habe vor dem Abitur eine Hausarbeit über Viktor Frankls "Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager" geschrieben. Es ist das "Trotzdem", das durch Unerträgliches trägt. Und das Glück, das sind einzelne Glücksmomente. Ja, die gibt es, die kann es in jeder Situation geben.
Die Autorin Sina Pousset beschreibt in ihrem Debütroman "Schwimmen", wie unterschiedlich zwei Frauen mit dem Thema "Trauer" umgehen: Die eine stürzt sich in die Arbeit, die andere bricht zusammen.
Ich glaube, beides ist möglich und beides wird es phasenweise auch geben. Meine Erfahrung ist, sich dieser Phasen bewusst zu werden, um sie auch beenden zu können. Das eine wie das andere ist im Extrem schädlich und sogar gefährlich.
Mein Vater ist 81 Jahre alt. Ich frage ihn, wie er über den Tod denkt und wo er einmal beerdigt werden möchte, aber er antwortet nicht. Ist der Tod ein Tabu?
Zunächst einmal fordert der Tod Respekt ein, finde ich. Es geht nicht oder nicht nur darum, was mir als Angehöriger wichtig ist. Ich habe gelernt, den Abschied so mitzugehen, wie ein älterer oder sterbender Mensch diesen gestalten möchte. Das ist das letzte Ereignis im Leben eines Menschen. Vielleicht ist es Ihrem Vater ein Anliegen, darüber nicht zu reden?
Früher gab es die Totenwache, heute verbringen doch immer weniger Menschen Zeit mit Sterbenden oder Toten. Fürchten sich die Menschen davor?
Vor dem ersten Toten hatte ich große Angst, damals war ich Anfang 30, wollte aber unbedingt beim letzten Atemzug dabei sein, um ihn nicht alleine sterben zu lassen. Mir ist es sehr wichtig, mich verabschieden zu können. Das ist eine wertvolle Erinnerung, ein Liebesbeweis oder ein Zeichen der Dankbarkeit, wie immer man es auch nennen mag.
Und wenn ein geliebter Mensch, wie Ihre Schwester, ganz plötzlich geht?
Ja, das ist schwierig. Dann kann man die Trauerfeier im Sinne des Verstorbenen gestalten, also etwas für ihn tun. Oder etwas unternehmen, was wir beide gerne gemeinsam gemacht haben.
In Ihrem Buch habe ich gelesen, dass Sie Schweinebraten und Nachtisch essen, weil Ihre Schwester beides so sehr mochte.
Ich habe auch die Musik gehört oder die Pullover getragen, die sie mir geschenkt hat. Es mag schräg klingen, aber das schadet nicht, wenn es daneben auch ein eigenes Leben gibt.
Mir gefiel besonders, dass Sie den Leser an Ihrer Zerrissenheit teilhaben lassen: Sie träumten zum Beispiel, die Schwester und ihre Familie hätten überlebt, und Sie hatten ein schlechtes Gewissen, weil Sie gerade die Trauerfeier vorbereiteten.
Die Zerrissenheit, die Zweifel, ob man alles im Sinne der Hinterbliebenen erledigt, kennzeichnen für mich die Trauer. Viele sagen, für sie steht mit dem Verlust die Welt still und gleichzeitig geht das Leben weiter. Gleichzeitig mit dem Leben und dem Tod konfrontiert zu sein, fand ich auch sehr schwierig. Nehmen Sie ein banales Beispiel: Die Freundin klagt über eine Erkältung, während Sie eine Urne aussuchen.
Half Ihnen der christliche Glaube?
Das kann ich nicht genau sagen, aber ich weiß, dass ich Rituale wie einen Gottesdienst ganz wichtig finde. Es braucht Rituale und einen Ort, um sich zu verabschieden. Und ich habe mehrfach erlebt, dass gläubige Menschen leichter gehen können, vor allem, wenn sie krank sind oder ein langes, gutes Leben hatten.
In dem Roman "Das Feld" aus dem Jahr 2018 von Robert Seethaler gestatten sich die Toten einen Rückblick auf ihr Leben, der teils sehr verblüffend ist. Eine Verstorbene schreibt dagegen nur ein Wort: "Idioten."
Mir hat sehr gefallen, dass Robert Seethaler den Verstorbenen eine Stimme gibt. Damit ist der Tod eben nicht das letzte und danach verstummt alles. Die Toten sind sehr lebendig, sie schimpfen, sie schwärmen oder sind kurz angebunden. So verschieden Menschen auf ihr Leben blicken, so unterschiedlich erleben sie auch Trauer.
Was half Ihnen, mit dem Schicksalsschlag weiterleben zu können?
Ich habe ganz vieles versucht und ausprobiert: Bücher gelesen, mit Freunden gesprochen, eine Tasse aus dem Fenster geworfen, geschrieben und still gesessen. Mir fiel es nicht leicht und oft habe ich mich gefragt, was sich die Verstorbenen von mir gewünscht hätten. Die Analytikerin Verena Kast habe ich in ihrem Buch "Trauer" so verstanden, dass es ein Nebeneinander von Trauer und Freude geben kann. Die Freude gilt es, bewusst zu suchen. Das versuche ich noch heute.
INFOViktor Frankl: Trotzdem Ja zum Leben sagen, Kösel Verlag; Verena Kast: Trauern, Kreuz Verlag; Cornelia Klaila: Ein einziger Tag, Kiener Verlag; Sina Pousset: Schwimmen, Verlag Ullstein Fünf; Robert Seethaler: Das Feld, Hanser Verlag.
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