„Seien Sie zufrieden, wenn Ihr Sohn die Klasse schafft“
10.05.2015, 20:07 UhrDie 35-Jährige kam vor elf Jahren mit dem fünfjährigen Assylbek aus Kasachstan nach Deutschland. Auf der Suche nach einem Neuanfang, wollte Shanna Gross alles richtig machen. Die Germanistin sprach zu Hause mit Assylbek nur Deutsch, damit er die Sprache rasch lernt. Aus demselben Grund meldete sie ihn sofort in einem Kindergarten an.
Während der Grundschulzeit an der Wandererschule lernte die Mutter, die selber eine Ausbildung zur Optikern machte, viel mit ihrem Jungen. Als es um den Übertritt ging, bekam Assylbek aber nur eine Empfehlung für die Mittelschule. Shanna Gross war enttäuscht, „ich war mir sicher, dass er auch die Realschule schafft“. Doch sie sei „ins Klischee geraten“, meint sie. „Wir waren erst kurz hier, Deutsch war noch nicht Assylbeks Muttersprache.“ Sie wagte nicht, für ihren Sohn mehr zu fordern.
„Ich war blauäugig“
Bereits ab der vierten Klasse sei ihr von Lehrern vermittelt worden, dass sie doch damit zufrieden sein soll, wenn Assylbek die Klasse gerade so schafft. „Ich war blauäugig und habe den Lehrern vertraut“, sagt die Mutter. Sie mache diesen auch keinen Vorwurf. Lehrer erlebten schließlich viele Familien mit Migrationsgeschichte, „die sich nicht um ihre Kinder kümmern, vielleicht entwickeln sie deshalb die Grundeinstellung, dass es bei diesen Kindern reicht, wenn es einigermaßen läuft“. Mit dem Bemühen um individuelle Förderung habe das wenig zu tun.
„Es gibt noch Benachteiligungen im Schulsystem“, sagt die Leiterin des Nürnberger Bildungsbüros, Elisabeth Ries. Man sehe das bei der Verteilung auf die Schularten. „Kinder mit Migrationsgeschichte besuchen besonders häufig die Mittelschule.“ Ries und ihre Kollegen geben in diesem Herbst den dritten Bildungsbericht für die Stadt Nürnberg heraus – im Zentrum steht die Frage, wie Herkunft den Bildungserfolg beeinflusst.
Im Bildungsbericht von 2011 schnitt das Nürnberger Schulsystem unter diesem Aspekt nicht gut ab. Ein Ergebnis war, dass Migrantenkinder bereits in der Grundschule, aber auch in den weiterführenden Schulen, besonders oft sitzenbleiben. Viele schaffen keinen Abschluss. In Nürnberg hängt der Bildungserfolg eng mit dem Wohnviertel zusammen, in dem ein Kind aufwächst. Ries hat den Eindruck, dass es bei den Migrantenkindern aus Mittelschichtfamilien seit 2011 Verbesserungen bei den Bildungsabschlüssen gegeben hat. „Viele qualifizieren sich auf der Fachhochschule oder der Wirtschaftsschule weiter.“
Für Assylbek ging es an der Preißler-Schule weiter. Sein Stiefvater Konstantin Gross arbeitete mit dem Jungen an der Einstellung zum Lernen. „Ich musste bei ihm einen Hebel umlegen, damit er erkennt, dass es toll ist ehrgeizig zu sein“, sagt der 28-Jährige. Eine gute Ausbildung bedeute auch eine gute Zukunft, ergänzt Shanna Gross. Das habe in russischen Familien „oberste Priorität“. Sie selber hat schon mit 16 Jahren in Kasachstan die Universität besucht, „etwas anderes als ein Studium kam nicht infrage“.
Großer Ehrgeiz sei in russischen Familien verbreitet, weiß auch Schulreferent Klemens Gsell. Grundsätzlich habe die jetzige Generation von Migrantenkindern bessere Schulabschlüsse als noch deren Eltern. „Doch man muss nach Nationalitäten unterscheiden: Kinder aus Asien oder Russland sind nah dran an den Leistungen deutscher Kinder. Jungen aus Nordafrika oder dem Nahen Osten gehören zu den Bildungsverlierern.“ Was an der frühkindlichen Erziehung in diesen Familien liegen könne.
Assylbeks Eltern sind froh, dass er seit diesem Schuljahr eine Vorbereitungsklasse (V-Klasse) an der Mittelschule St. Leonhard besucht. Den „Quali“ hat er in der Tasche, jetzt kann er – gestreckt auf zwei Jahre – in aller Ruhe den Realschulabschluss machen. „Wir wollten nicht sofort Leistungsdruck, Assylbek soll sich langsam verbessern können“, sagt der Stiefvater. Er sei froh, dass sie die Klassenleiterin an der Preißler-Schule auf die V-Klasse aufmerksam machte. „Man braucht diese Hilfe.“
Der Schulreferent findet die V-Klassen gut geeignet „für Kinder, die spät ins deutsche Schulsystem wechseln“. Für Schüler, die in Deutschland geboren sind, setzten sie zu spät an. Gsell fordert grundsätzlich neben Sprachförderung in Kindergärten mehr Ganztagsklassen. „Sie geben uns die Möglichkeit, auch Kinder aus schwierigen Familien länger in der Schule zu behalten und dort zu unterstützen.“ Langfristig möchte Gsell die Mittagsbetreuungen durch die offene Ganztagsschule ersetzen. Bayernweit sollen zum nächsten Schuljahr 300 neue Klassen im offenen Ganztag entstehen. Nürnberg hat die Viatis-, die Hegelschule und die Schule Amberger Straße ins Rennen geschickt.
Assylbek ist in seiner jetzigen Klasse zufrieden. Seine Eltern loben, dass die Lehrerin die Autorität habe, die sie sich vorher oft von Assylbeks Lehrern gewünscht hätten. „Russische Lehrer sind streng und die Klassen sind ehrgeizig, es gibt an den Schulen einen Wettbewerb.“ Assylbeks Eltern werden weiter daran arbeiten, dass ihr Sohn lernt, sich durchzusetzen. Auch im deutschen Bildungssystem.
Der nächste Teil der Serie beschäftigt sich mit Parallelgesellschaften.
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