Urteil im Kastenlauf-Prozess: Vollrausch endete in Tragödie

28.08.2018, 19:45 Uhr
An der Unfallstelle in Möhrendorf, an der ein Radfahrer bei dem Unfall sein Leben verlor, wurden im vergangenen Juni zum Gedenken Blumen aufgestellt.

© Foto: Klaus-Dieter Schreiter An der Unfallstelle in Möhrendorf, an der ein Radfahrer bei dem Unfall sein Leben verlor, wurden im vergangenen Juni zum Gedenken Blumen aufgestellt.

Für die Jugend beginnt die Bergkirchweih nicht erst mit dem Anstich. Nein, es wird vorgeglüht. Man fährt zum Supermarkt, deckt sich mit Bier ein und ab geht es zum Kastenlauf. Das Prinzip: Am Ende kommen alle vom Wiesengrund aus auf dem Berg an, der Kasten ist leer. Wer sofort bechert, der muss weniger schleppen.

Der Kastenlauf war im Juni vergangenen Jahres auch das Ziel eines 29-Jährigen, der zusammen mit Freunden feiern wollte – jetzt sitzt er vor der Berufungskammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth auf der Anklagebank. Damals hatte er mindestens sieben Bier und zwei Pfeffi intus, es war zunächst lustig - jetzt ist der junge Mann leichenblass, den Kopf hält er meist gesenkt. Er weiß, dass er das, was er an dem Tag angerichtet hat, wohl nie wieder gut machen kann.

Keine Erinnerung an die Tat

Es gibt wohl selten Angeklagte, deren Reue man so deutlich spürt. An die Tat selbst hat er keine Erinnerung. Ob es am Alkohol oder an einem Verdrängungsmechanismus liegt – man wird es nie erfahren. Der Angeklagte kann sich erst wieder daran erinnern, wie er in Möhrendorf weinend auf dem Bürgersteig sitzt. Und er erinnert sich an die Leere, die er gespürt hat, als er realisiert hat, dass er einen Menschen getötet hat.

"Ich bereue, an dem Tag das Haus verlassen zu haben", sagt er heute. Aber zurückdrehen lässt sich die Zeit eben nicht. Der 29-Jährige hat damals im Suff einen Kastenwagen geklaut, ist damit über den Radweg nach Möhrendorf gerast und hat dort zwei Radfahrer gerammt. Einer der Männer hätte heuer seinen 60. Geburtstag gefeiert. Er kam unter das Fahrzeug, war sofort tot. Der Mann hinterlässt eine Ehefrau und Kinder. "Er hatte noch viel vor", hieß es damals in der Traueranzeige.

Auf dem Weg zur Bergkirchweih treffen sich Feiernde unter anderem im Erlanger Wiesengrund, um vorzuglühen. Weil sie dabei oft ganze Bierkästen mit sich herumtragen, heißt das ganze "Kastenlauf".

Auf dem Weg zur Bergkirchweih treffen sich Feiernde unter anderem im Erlanger Wiesengrund, um vorzuglühen. Weil sie dabei oft ganze Bierkästen mit sich herumtragen, heißt das ganze "Kastenlauf". © Klaus-Dieter Schreiter

Der andere Radfahrer überlebte. Die körperlichen Verletzungen des 59-Jährigen sind mittlerweile verheilt, psychisch hat er immer noch daran zu knabbern. Die Entschuldigung des Angeklagten nimmt er in der Berufungsverhandlung an – die Zukunft will er dem jungen Mann, der bislang unbescholten durchs Leben ging und sein Geld als wissenschaftlicher Mitarbeiter verdient, schließlich auch nicht verbauen.

Aber es sind nicht nur der Angeklagte, der Verletzte und die Angehörigen des Toten, die wohl nie wieder so leben werden wie vor dem Tag im Juni vergangenen Jahres. Ein Polizist – er war in zivil unterwegs, wollte noch zu seinem Garten fahren – kam als erster zur Unfallstelle. Er sah einen Mann in einer Blutlache. Er meint, damals noch nach dem Arm gegriffen und keinen Puls gespürt zu haben. Am Ort des Geschehens spult er das Programm ab, das er bei seinem Dienstherrn gelernt hat, setzt einen Notruf ab, koordiniert die Ersthelfer, sorgt dafür, dass der Fahrer des Unglückswagens am Tatort bleibt.

"Schau, dass du dich schleichst"

Und dennoch: Der Unfall war für den Beamten ein Schlüsselerlebnis. Drei Monate später quittiert er nach 15 Jahren als Polizist den Dienst. Bei der Verhandlung im Frühjahr beim Amtsgericht Erlangen erzählte er noch von Vorwürfen, die er sich seitdem macht. Hätte er keinen Zwischenstopp eingelegt, sein Auto wäre vielleicht zwischen dem geklautem Transporter und den beiden Fahrrädern gewesen. Die größere Knautschzone hätte vielleicht vieles verhindern können.

Hätte und vielleicht – das sind entscheidende Worte bei der Tragödie rund um den Kastenlauf. "Hätte ich eine Minute früher reagiert, wäre er nicht weg gekommen", sagt ein 66-Jähriger, der den Autodiebstahl mitbekommen hat. Der Schreiner hat gerade Fenster repariert. "Da hab ich einen jungen Mann gesehen, der Mann war angetüdelt", erinnert er sich. Im Rausch habe der junge Mann versucht, Autos zu öffnen. "Ich hab geschrien: 'Was machst Du da?'"“, sagt der Zeuge. Und: "Du bist besoffen wie ein Haus, schau, dass Du Dich schleichst."

Manche Zeugen machen sich bis heute Vorwürfe 

Er habe das Fenster wieder geschlossen, sich dann aber doch Sorgen gemacht, meinte es gut. "Ich bin raus, nicht, dass der junge Mann nicht heim kommt." Außen angekommen saß der 29-Jährige bereits in einem weißen Sprinter, die Fahrertür stand offen – der eigentliche Fahrer hatte den Wagen mitsamt Schlüsseln offen stehen gelassen, wollte nur kurz Werkzeug holen. Der 66-Jährige, der zuvor vom Fenster aus beobachtete, griff noch nach dem Arm des Mannes, wollte ihn aus dem Auto ziehen, erwischte ihn jedoch nicht, das Auto setzte zurück. Eine Radfahrerin konnte gerade noch ausweichen. "Ich mach mir heute noch Vorwürfe", sagt der Zeuge. Als er geht, drückt er den Angeklagten. "Vielleicht sieht man sich ja mal", sagt er fast väterlich zu dem jungen Mann.

Der 29-Jährige brauste nach dem Diebstahl über den Radweg nach Möhrendorf, Radfahrer und Fußgänger mussten ausweichen, er tippte am Steuer Nachrichten an seine Freundin. In Möhrendorf dann die folgenschwere Kollission.

Wie aber konnte es soweit kommen, dass ein bislang unbescholtener Mann eine solche Wahnsinnstat begeht? "Dafür gibt es nach wie vor keine vernünftige Erklärung", sagt Thomas Lippert. Er ist psychiatrischer Sachverständiger. Der Angeklagte hatte während der Tat mindestens zwei Promille intus – Lippert geht von einer verminderten Schuldfähigkeit aus.

Keine Strafe auf Bewährung

Wie aber soll man den Mann bestrafen? Vom Amtsgericht in Erlangen kassierte er im Frühjahr 20 Monate – und zwar ohne Bewährung. Vor dem Landgericht hofft der 29-Jährige nun auf eine Chance. "Der Angeklagte ist kein Krimineller, dem man endlich das Handwerk legen muss", sagt der Staatsanwalt. Natürlich müsse man ihm auch eine positive Sozialprognose bescheinigen. Aber: der Tod eines Menschen, die Verletzungen eines anderen, die Tatsache, dass ein Polizist seinen Beruf nicht mehr ausüben kann... Wenn die Folgen einer Tat derart schwerwiegend sind, dann kann es schon wegen der gebotenen Verteidigung der Rechtsordnung keine Bewährung geben.

Verteidiger Robert Reitzenstein sieht das anders. Er beantragt für seinen Mandanten ein Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung. "Er muss für den Rest seines Lebens mit der Gewissheit leben, für diesen Schlamassel verantwortlich zu sein", sagt er. Das Berufungsgericht unter Vorsitz von Martina Müller folgt in der Argumentation jedoch dem Staatsanwalt. Der Angeklagte kassiert ein Jahr und vier Monate – ohne Bewährung. Der junge Mann verweilt auch nach der Urteilsbegründung noch einige Zeit regungslos auf der Anklagebank.