Wenn das Gehirn mit Reizen nicht klarkommt
11.3.2009, 00:00 UhrHerr Heeren, die öffentliche Diskussion um ADHS scheint etwas abgeebbt zu sein. Wie massiv ist das Problem?
Bernhard Heeren: ADHS ist in Deutschland erst in den vergangenen zehn Jahren ein Thema geworden, vorher hat man es verneint, obwohl es das Problem schon immer gab. Weltweit sind rund fünf Prozent der Bevölkerung von dieser Störung betroffen. Wenn ich meine ADHS-Patienten betrachte - ich behandle rund 140 Kinder und Jugendliche - würde ich hier eher von drei Prozent sprechen.
Was sind die Ursachen für ADHS?
Heeren: Es handelt sich um eine gestörte Wirkung von Botenstoffen im Vorder- und Mittelhirn, wo wesentliche Steuerfunktionen für Aktivität und Aufmerksamkeit angesiedelt sind. Wenn die Wirkung zum Beispiel von Dopamin in den entsprechenden Hirnarealen nicht genau reguliert wird, kann unser Gehirn die vielen Sinnesreize aus der Umwelt und die Affekte und Handlungsimpulse, die es selbst erzeugt, nicht ausreichend steuern. Häufig liegt eine genetische Veranlagung zugrunde, weshalb ADHS in Familien oft gehäuft vorkommt.
Bei Behandlung denkt jeder sofort an Ritalin, für die einen ist es ein Wundermittel, für andere Teufelszeug. Wie halten Sie es damit?
Heeren: Die Diskussion um ADHS war lange eine für oder gegen Ritalin, beziehungsweise Methylphenidat, so heißt der Wirkstoff. Von meinen 140 Patienten bekommen höchstens 70 eine solche Psychostimulanz. Eine alleinige Behandlung damit erfolgt nur, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt. Im Vordergrund steht jedoch eine sogenannte multimodale Therapie. Das heißt, man erfasst die individuellen Probleme des Patienten über Gespräche mit Eltern, Erziehern, Lehrern und entwickelt dann unter Einbeziehung von Verhaltens- und Ergotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychologen beziehungsweise -psychiater eine Therapie. Dafür brauchen wir das Netzwerk.
Geballt Informationen zu bieten - war das der Hintergrund für die Gründung des Netzwerkes?
Heeren: Ursprünglich nicht. Als 2004 der Arbeitskreis ADHS gegründet wurde, ging es darum, von Kinderärzten über Pädagogen, Eltern, Erziehungsberatern und Therapeuten alle an einen Tisch zu bekommen, Vorurteile abzubauen und die Zusammenarbeit zu verbessern. Daraus entstand dann die Idee, Schule, Therapie und Betroffene zu verbinden. Wir haben viele engagierte Mitarbeiter. So hat sich zunächst das Beratungsnetzwerk Fürth Stadt und Land entwickelt. Da wir aber in der Metropolregion leben und Kollegen aus Nürnberg und Erlangen den Wunsch hatten, eingebunden zu werden, haben wir in einjähriger Vorbereitung und auf ehrenamtlicher Basis eine neue Internetseite vorbereitet.
Trotz aller Hilfsangebote und Therapien ist die Belastung speziell für die Familie groß.
Heeren: Sicher, denn die Familie muss für die Kinder, die oftmals intelligent und kreativ sind, ein gutes Umfeld schaffen. Sie brauchen mehr Aufmerksamkeit, man muss die positiven Seiten verstärken und die negativen reglementieren. Deshalb ist Beratung und Eltern-Training ein wichtiger Bestandteil der Familienunterstützung bei ADHS.
Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sind damit allerdings in der Regel überfordert.
Heeren: Das liegt meiner Erfahrung nach aber nicht an Erzieherinnen und Lehrern, sondern am System. Wenn ich nach Finnland und Schweden schaue, dort sind Erzieherinnen im Kindergarten ausgebildete Sozialpädagogen. Der Stellenschlüssel, auch an den Schulen, ist ein anderer. Man kann die Kinder intensiver und individueller fördern, und zwar in der Gruppe. Oft reicht es, die Betroffenen einfach bei der Stange zu halten. In beiden Ländern wird ADHS daher auch seltener mit Medikamenten behandelt.
Ist die Versorgungsstruktur in Nürnberg und der gesamten Metropolregion ausreichend?
Heeren: Es gibt auf jeden Fall zu wenig Plätze in der Psycho- und Elterntherapie. Wartezeiten von einem halben Jahr sind nicht ungewöhnlich.
Trotz aller Therapiemöglichkeiten - heißt einmal ADHS immer ADHS?
Heeren: Ja, wobei sich diese Menschen in einem passenden Umfeld sehr gut sozialisieren und auch zu Höchstleistungen fähig sind. Albert Einstein hatte ADHS-Züge und auch Bill Clinton. Man kann also sogar Präsident der USA werden - vielleicht muss man dazu sogar hyperaktiv sein. Interview: Harald Ehm
www.adhs-netzwerk-
nuernberg-fuerth- erlangen.de