Weshalb gehen in Nürnberg lebende EU-Bürger zur Europawahl?
20.05.2014, 11:47 Uhr
Ist es Zufriedenheit, Gleichgültigkeit oder einfach Protest? Politiker und Experten rätseln seit Jahren über die Gründe, warum die Wahlbeteiligung in Deutschland und in vielen anderen Ländern stetig sinkt – auch bei den Europawahlen. Über die neue Zusammensetzung des Europäischen Parlaments dürfen bis Sonntag alle EU-Bürger entscheiden, die über 18 Jahre alt sind und seit mindestens drei Monaten in einem EU-Staat leben.
Noch ist Andja Skojo "nur“ kroatische Staatsbürgerin. Demnächst will die 61-Jährige aber auch einen deutschen Pass beantragen. Schließlich lebt sie schon seit 43 Jahren in Nürnberg. Theoretisch könnte Skojo auch über den Einzug der kroatischen Abgeordneten ins Europa-Parlament entscheiden. Seit seinem Beitritt am 1. Juli 2013 ist Kroatien das jüngste Mitglied in der Europäischen Union. Doch ihr Lebensmittelpunkt ist längst hier, sagt sie. Am kommenden Sonntag wird Skojo daher im Nürnberger Rathaus ihr Kreuzchen auf dem Wahlzettel machen.
Bei den Kommunalwahlen im März wollte Skojo für die CSU einen Platz im Stadtrat ergattern. Leider hat es nicht geklappt, doch ihr politisches Engagement hängt die 61-Jährige deshalb nicht an den Nagel. "Viele Menschen fühlen sich von den Parteien und Politikern nicht gut genug informiert und gehen deshalb nicht zur Wahl“, glaubt Skojo. Dabei müsse gerade die komplexe EU gut erklärt werden.
Europa hat nur eine Zukunft, "wenn wir es als Europäer zusammen gestalten“, sagt sie. Außerdem solle Europa ein christliches Europa bleiben. "Deshalb ist es wichtig, das wir mit unserer Stimme entscheiden, welche Vertreter im Parlament sitzen.“
Die Bürokratie darf dabei aber nicht zu weit gehen: Brüssel solle sich der großen, wichtigen Dinge annehmen, etwa der Jugendarbeitslosigkeit, sagt Andja Skojo. "Aber wie in einem Land Bier gebraut wird oder wie eine Bratwurst schmeckt, sollte jede Regierung selbst entscheiden dürfen.“
Die Kroaten haben sich sehr über den EU-Beitritt gefreut, berichtet die 61-Jährige. Auch ihre in Nürnberg lebenden Landsmänner. "Wir fühlen uns als Europavolk.“ Allerdings habe die Aufnahme in die Europäische Union vielen zu lange gedauert. Immerhin sei das Land bereits seit 2004 offizieller EU-Beitrittskandidat gewesen.
"Viele Kroaten sind der Meinung, dass sich die wirtschaftliche Krise im Land seitdem noch verstärkt hat“, sagt Skojo. Daran trage jedoch nicht die EU Schuld. "In Ländern mit sozialistischer Vergangenheit muss einfach noch viel passieren, bis in den Köpfen klar wird, dass Demokratie nicht nur nehmen heißt, sondern auch geben.“
EU-Beitritt brachte Polen viele Vorteile
Lukasz Pankowski kommt aus der Stadt Walbrzych in Polen und studiert Wirtschaftsingenieurwesen an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Für den 19-Jährigen war schon bald klar, dass er einmal in der Bundesrepublik studieren will. "In der Schule habe ich als einer der wenigen die deutsche Sprache gelernt.“ Die Sommerferien hat Lukasz oft bei seiner Tante in Langwasser verbracht; bei ihr wohnt er auch während des Studiums. Seine Briefwahlunterlagen zur Wahl in Polen hat Lukasz schon erhalten. "Ich habe auch daran gedacht, in Deutschland zu wählen, aber ich kenne die Politiker hier nicht.“ Bis zum 25. Mai muss er die ausgefüllten Unterlagen an das polnische Konsulat in München schicken.
"Viele Leute informieren sich erst zwei oder drei Tage vor der Wahl, das ist aber zu spät“, findet der Student. "Meine Oma sagt immer: Wähle lieber die alten Politiker, denn die jungen sind nur in die Politik gegangen, um sich zu bereichern. Die älteren haben über die Jahre hingegen schon genug zusammengerafft, die können sich nun eher auf die Politik konzentrieren“, erzählt er schmunzelnd.
Deshalb schaut sich Lukasz genau an, was Politiker - auch jüngere - in ihrer Karriere schon geleistet haben und weniger, was sie während des Wahlkampfes versprechen; denn das werde leider meist nicht eingehalten. "Die Demokratie ist nicht das Beste, aber etwas anderes haben wir nicht.“
Der EU-Beitritt Polens 2004 habe seinem Land viele Vorteile gebracht, sagt Lukasz, der sich sehr für Politik interessiert. Polnische Studienabschlüsse werden nun in Europa leichter anerkannt, die Fahrt nach Hause über die Grenze verläuft schnell und problemlos und für den Nebenjob, der das Studium finanziert, ist kein Visum nötig.
Allerdings gebe es auch einige Nachteile für Polen, sagt der 19-Jährige. "Höhere Steuern und mehr Bürokratie.“
"Europa muss zusammenhalten"
Als Sowjetdiktator Josef Stalin 1939 das Baltikum für sich beanspruchte, war Sigrid Ehrenberger gerade einmal elf Jahre alt. Geboren und aufgewachsen ist die heute 86-Jährige in Lettland, als Tochter deutschstämmiger Balten. An ihre Kindheit in der Hauptstadt Riga, wo sie eine deutsche Schule besuchte, erinnert sie sich gern. Im Zuge der Ostkolonisation kamen die ersten Deutschen bereits im 13. Jahrhundert ins Baltikum, erzählt Ehrenberger.
Als die Russen 1944 einmarschierten, verließ Ehrenberger mit ihrer Mutter Riga in Richtung Deutschland. Nach einer Odyssee über Posen, Dresden und Pössnitz erreichten sie 1945 Nürnberg, wo sie auch heute noch lebt.
"Durch die jahrzehntelange deutsche Besiedelung ist das Baltikum sehr westlich geprägt“, sagt Ehrenberger. "Die Balten fühlen sich deshalb dem Westen zugehörig.“ Durch ihre Arbeit für die deutsch-baltische Gesellschaft - Ehrenberger ist Ortsvorsitzende - hat sie viel Kontakt in den Norden. "Natürlich beschäftigt der Ukraine-Konflikt die Menschen dort. Sie sind beunruhigt und überlegen, was sie tun könnten, falls es wie auf der Krim zu einer Abstimmung über die Zugehörigkeit zu Russland kommt“, berichtet die 86-Jährige.
Den EU-Beitritt vor zehn Jahren hätten die Balten als Sicherheit angesehen, weil sie sich Europa schon immer näher gefühlt hätten als Russland. Auch viele Russen, die in Lettland leben, empfinden so. Als am 1. Januar 2014 der Euro den lettischen Lats ersetzte, war die Freude groß: "Die Letten wollten den Euro unbedingt, weil er ein weiteres Zeichen der Verzahnung und Zugehörigkeit zu Europa ist.“
Für Sigrid Ehrenberger, die sich selbst als "Europäerin deutscher Nation“ bezeichnet, ist es sehr wichtig, am Sonntag wählen zu gehen: "Die Zeiten, in denen jeder Staat allein bestehen konnte, gibt es nicht mehr. Europa muss zusammenhalten.“ Allerdings, so fürchtet sie, wird es noch lange dauern, bis Europa ein Europa geworden ist.
Fehlende Aufklärung in Familien und Schulen
Mariana Alexie wohnt seit 24 Jahren in Nürnberg. Geboren ist sie in der rumänischen Stadt Braþov. Kurz nach der Wende ist sie mit ihrem Mann, einem deutschstämmigen Siebenbürger Sachsen nach Deutschland ausgesiedelt, weil die beiden in Rumänien keine Zukunft mehr sahen.
Die Regierung unter dem sozialistischen Diktator Nicolae Ceauþescu habe das Land in den 70ern und 80er Jahren heruntergewirtschaftet und in eine schlimme Versorgungskrise gestürzt, erzählt sie. "Die Lebensumstände waren nicht mehr tragbar: Im Winter drehte die Regierung bei minus 20, 30 Grad Strom und Gas ab. Man konnte nichts kaufen, es gab nicht mal Milch für mein Baby“, erinnert sich Alexie.
In Nürnberg fühlte sich die 46-Jährige von Anfang an willkommen. Nach ihrer Ankunft hat sie zuerst einen zehnmonatigen Deutschkurs belegt und gleich im Anschluss einen Job in einem Sekretariat gefunden. Heute arbeitet Mariana Alexie bei einem großen Nürnberger Unternehmen in der Personalabteilung.
Vor dem EU-Beitritt Rumäniens 2007 war es nicht einfach, ihr Heimatland zu besuchen. "Wir mussten jedes Mal stundenlang an der Grenze warten und den Wächtern Geld zustecken, bis wir endlich einreisen durften“, sagt sie. "Das war reine Schikane.“ Seit dem Beitritt sei die Fahrt über die Grenze kein Problem mehr.
Gerade für die junge Generation kann die EU eine Chance sein, glaubt Alexie. Aber viele verlassen das Land, weil die Löhne so niedrig sind. "Rumänien ist ein Gewächshaus für zahlungskräftigere Länder.“ Ob die EU da helfen kann, sei fraglich.
Dennoch glaubt sie an die europäische Idee. "Auch wenn die Demokratie ein Auslaufmodell ist - es ist besser als das, was ich in meiner Kindheit und Jugend erlebt habe.“ Wer nicht wählen geht, brauche sich hinterher auch nicht über die Politiker beschweren, sagt sie.
Dass die Wahlbeteiligung so niedrig ist, liege an der fehlenden Aufklärung in den Familien und Schulen, ist die Sozialdemokratin überzeugt. Bei ihren eigenen Kindern, die inzwischen erwachsen sind, hat Alexie viel Wert auf politische Bildung gelegt: "Die gehen wählen.“
Europäische Union soll die Bürger zusammenbringen
Mit einigen Dingen in Europa ist Sotirios Xognos nicht einverstanden. "Aber wir machen es nicht besser, wenn wir nicht wählen gehen“, sagt der 56-Jährige. Sein Recht, mitzubestimmen, solle jeder nutzen. Und wer den Weg an die Urne nicht findet, gibt seine Stimme einer anderen, vielleicht radikalen Partei. "Die haben nämlich keine Probleme, ihre Wähler zu mobilisieren“, sagt Xognos.
Seit 1988 lebt der gebürtige Grieche in Nürnberg. Seine Frau, eine Deutsche, hat er in seiner Heimat kennengelernt. Weil er nach dem Studium zum Elektrotechniker in Griechenland keine geeignete Stelle gefunden hat, ist er nach Deutschland ausgewandert. Der Bürokratisierungswille Brüssels geht Sotirios Xognos allerdings zu weit.
Die Europäische Union - mit ihren 28 Mitgliedsstaaten, den unterschiedlich starken nationalen Prägungen und verschiedenen Alphabeten - müsse zuerst einmal die Europäer zusammenbringen und die Menschenrechte stärken, anstatt sich über das Aussehen von Gurken Gedanken zu machen, sagt er. "Aber wenn man nicht zur Wahl geht und seine Stimme abgibt, wie soll man dann seine Unzufriedenheit zeigen?“
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