Hermann Hiery: Weltenbummler und Bücherliebhaber
23.2.2020, 08:55 UhrÜber seinen Wikipedia-Eintrag kann Hermann Hiery nur den Kopf schütteln. Dafür sei er doch gar nicht wichtig genug. "Meine Tochter hat mir das erzählt, sonst wüsste ich gar nicht davon." Am liebsten hätte Hiery, der als Professor an der Universität Bayreuth Neueste Geschichte lehrt, dass der Eintrag gelöscht wird. Dass es nicht so einfach geht, nimmt er dennoch gelassen zur Kenntnis. "Aber ich wüsste schon gerne, wer sowas macht", sagt er.
Ruhig wirkt Herman Hiery in seinem Auftreten, die Sätze im persönlichen Gespräch formuliert er überlegt und mit Bedacht. Aber ab und zu merkt man, dass ihm noch der Schalk der Jugend im Nacken sitzt. Wenn er über seine Zeit als Schülersprecher am Gymnasium im oberbayerischen Mühldorf erzählt. "Da bin ich schon offensiv vorgegangen", sagt er und muss über eine Episode schmunzeln, als seinerzeit die Schülermitverwaltung für Schüler und Lehrer Gleichheit beim Schuhwerk eingefordert hat. "Wir Schüler mussten im Unterricht noch Pantoffel tragen", erklärt er, die Lehrer haben Straßenschuhe getragen. "In der Schulordnung stand nichts darüber, dass man Hausschuhe zu tragen hätte", sagt Hiery.
Später, an der Uni war er – als Mitbegründer – in der liberalen Hochschulgruppe aktiv: "Wir haben uns gegen die Erhöhung der Mensapreise eingesetzt." Und zuerst sogar eine Mehrheit im Studentenwerk erstritten. Aber letztendlich leider vergebens. "Das wurde abgesägt."
Ganz anders sein Auftreten in der Geschichtsvorlesung, da ist der 62-Jährige in seinem Element. Hiery erzählt mit Verve und Nachdruck und seine Stimme dröhnt bis in die hintersten Reihen des Hörsaals, als er in der letzten Vorlesung des Semesters über das Ende des Tages des Zweiten Weltkriegs berichtet. Das deutsche Kaiserreich und der Erste Weltkrieg sind sein Spezialgebiet. Wie auch die deutsche Kolonialgeschichte.
Das kommt nicht von ungefähr: Drei Jahre lang hat Herman Hiery als junger Mann auf Papua-Neuguinea, in Madang, gelebt. Denn in Freiburg, wo er 1984 promoviert hat, hat den damals 31-Jährigen nichts gehalten. "Ich hatte keine Stelle an der Uni und habe in einer akademischen Buchhandlung gearbeitet", erzählt Hiery, als ihn schließlich der Ruf aus der Südsee ereilte: "Ein einheimischer Brieffreund hat mich gefragt, ob ich nicht an der Hochschule lehren will, die ein katholischer Orden dort aufgebaut hat." Den Brieffreund kannte er schon seit seiner Jugend; der Kontakt kam damals über den Briefmarken-Klub, in dem Hiery als Heranwachsender Mitglied war.
Bücher waren längst verkauft
Geld sollte Hermann Hiery dort keines verdienen, aber Kost und Logis wurden gestellt. Dennoch hat er die Koffer gepackt, einen Koffer: "20 Kilogramm Gepäck, so wie es auch heute auf Flugreisen üblich ist." Seine Bücher hat er — bis auf wenige, wie ein Englisch-Wörterbuch — in eine Kiste gepackt und auf dem Seeweg nach Papua-Neuguinea geschickt. "Bücher über die Kolonialzeit, aus dem Studium. Und Romane, beispielsweise von Gogol", erinnert er sich. Denn: Angekommen sind seine Bücher, gehütet und geschätzt, nie. Zumindest nicht in vollem Umfang. Nach einem halben Jahr Wartezeit hat Hermann Hiery schließlich bei den Verantwortlichen in der Mission, die sich um das große Gepäck hatten kümmern sollen, nachgefragt: "Dabei habe ich erfahren, dass meine Bücher zu Wohltätigkeitszwecken offenbar längst verkauft worden waren." Es habe da wohl Missverständnisse in der Kommunikation gegeben. "Aber man hat sich sehr bemüht, die Bücher aufzutreiben", erzählt Hiery. Und schließlich einige sogar wiederbeschaffen können.
In der Nähe von Honeckers Elternhaus
Die Jahre in Madang haben Hiery geprägt. "Alles womit man aufgewachsen ist, wovon man felsenfest überzeugt war – das habe ich hinterfragt", sagt der Historiker. Seine Studenten hätten Fragen danach gestellt, warum Deutschland geteilt sei. Wie man damit emotional umginge. "Ich habe mich dann auch selbst hinterfragt." Es sei ein schleichender Prozess gewesen: "Das muss man erlebt haben." Wie auch die Sicht, die die indigene Bevölkerung auf ihn, auf Europäer, hatte. Hiery erzählt von einem Erlebnis, als eine Baining-Frau auf ihn als den "weißen Mann" mit dem Finger gezeigt hat und das Baby auf ihrem Arm zu schreien angefangen hat.
In den Semesterferien ist Hiery immer nach Hause geflogen. Zur Familie nach Waldkraiburg — und um an seiner Dissertation zu arbeiten. Natürlich über die deutsche Kolonialzeit. Dafür reiste er regelmäßig nach Potsdam in das damalige Staatsarchiv der DDR, wo er uneingeschränkten Zugang zu allen Unterlagen erhalten hat. Ganz anders als die wenigen Wissenschaftler aus dem Westen, die dort ebenfalls geforscht haben. "Ich denke, das hat daran gelegen, dass ich in Saarlouis geboren bin", vermutet Hiery, "in Wiebelskirchen habe ich Cousins, ganz in der Nähe, wo Erich Honeckers Elternhaus steht." So erklärt er sich, dass er sich ungehindert seiner Arbeit widmen konnte.
Und auch hier blitzt wieder der jugendliche Schalk hervor, als Herman Hiery erzählt mit welchem "Trick" er dafür gesorgt hat, dass das Archiv auch am Ende seines Arbeitstags noch beheizt war. Er hat einfach alle Bücher, mit denen er gearbeitet hat, bis zum Ende behalten und alle auf einmal abgegeben; statt jedes einzelne, sobald er damit fertig war. "Denn ein Mitarbeiter hat die abschließend noch Seite für Seite kontrollieren müssen", sagt der 62-Jährige. Und das habe dieser ja nicht in einem kalten Raum tun wollen. Mehr als einmal hatte man Hiery nämlich die Heizung abgedreht, nachdem man sein Arbeitspensum fast für beendet wähnte. "Ich hatte zwar immer Mantel und Schal dabei, aber schön war das nicht."
Seit 1996 lebt Hermann Hiery nun in der Weidenberger Gegend, wo er sich zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern – die mittlerweile längst aus dem Haus sind – nach fünf Jahren als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut in London niedergelassen hat. Noch heute berichtet er begeistert von der Offenheit der Dorfbewohner, die ihnen damals entgegengebracht wurde.
Im multikulturellen London hatte es seine Frau, die aus Papua-Neuguinea stammt, ungleich schwerer. In der Gegend sei man schon immer recht tolerant gewesen, meint Hiery: "Schon bald nach dem Krieg haben sie einen Sudetendeutschen zum Bürgermeister gewählt, das ist schon sehr ungewöhnlich."
"So geht es schief"
Als Historiker sucht Hermann Hiery nach Parallelen, Erklärungen. Erahnt in aktuellen politischen Geschehnissen vielleicht eher "gewisse Risiken und Gefahren"; denn vieles kehrt wieder, wenn auch in anderen Konstellationen. "An historischen Vorbildern kann man aber auch sehen: So geht es schief", sagt Hiery. Und, meint er, es gebe keinen Punkt, ab dem es nur noch nach unten geht. "Die Zukunft ist, wie die Geschichte, offen."
Keine Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen