Zum Südpol und zurück in die DDR, die es nicht mehr gab
30.12.2014, 15:33 UhrFür Frank Heimann, den gebürtigen Ostberliner, begann alles 1987 mit der Anfrage der DDR-Regierung bei seinem damaligen Arbeitgeber, der Deutschen Seereederei Rostock. Die DDR wollte Mitglied des Antarktisvertrags zur friedlichen Nutzung und wissenschaftlichen Forschung werden, um dort sozusagen „den Fuß in der Tür“ zu haben. Dafür brauchte sie eine Forschungsstation am Südpol, und für die suchte sie einen Funker mit Lizenz für das internationale Funkmeldenetz.
Eine einmalige Chance – wenn auch mit der Aussicht auf zweijährige Abwesenheit – erkannte der Funkoffizier und entschloss sich erst nach langer Bedenkzeit und mit Zustimmung seiner damaligen Freundin und heutigen Frau Erika zu dem Abenteuer. Nach zwei Jahren Vorbereitung mit Kursen, Seminaren und intensiver Schulung für „alle Fälle“ hieß es im September 1989 „Auf in Richtung Südpol!“
Eier in Pulverform
Dabei standen er und seine Kollegen vor Fragen, die sich in der Zivilisation erst gar nicht stellen, wie: „Wie viel Zahnpasta muss ich für zwei Jahre mitnehmen?“ Auch der Koch, der wichtigste Mann der Station, musste die Vorräte an Lebensmitteln für die Männer planen und einkaufen zum Beispiel Zucker und Mehl in Fässern, Eier und Milch in Pulverform.
Die Containerstation war in der sogenannten Schirrmacher-Oase aufgestellt, auf 73 Grad Süd und 16 Grad Ost. Der kälteste Monat war der August im Polarwinter mit Temperaturen bis -60 Grad, im Sommer kletterte das Quecksilber auf -20 Grad. Selbst mit der Elektroheizung stiegen in den Containern die Temperaturen am Boden nicht über den Gefrierpunkt. Ein Stockbett, das sich Heimann baute, schaffte etwas Abhilfe. Während der Polarnacht blieb es zwei Monate lang dunkel. Da die Station in etwa auf unserem Längengrad liegt, gab es keine Zeitverschiebung.
Zum Team gehörten zwei Ionosphärenphysiker, die das Erdmagnetfeld untersuchten und mit einer All-Sky-Spezialkamera der Universität Helsinki das Polarlicht und dessen Einfluss auf das Magnetfeld erforschten. Ein Meteorologe war verantwortlich für Wetterbeobachtung und den Zustand des Ozonlochs und registrierte rund 300 Ozonsondenaufstiege.
Ein Chemiker mit komplett eingerichtetem Labor suchte nach Isotopen in der Natur, sprich in Wasser, Schnee, Geröll und Jahrtausende altem Eis nach etwaigen Spuren von Bodenschätzen. Ein Vermessungsfachmann fertigte Karten an, vier Techniker unterschiedlicher Fachrichtungen vervollständigten das Team, darunter Heimann als Funker.
Den antarktischen Sommer nutzen auch zuweilen Gast-Wissenschaftler zu einem kurzen Aufenthalt auf der Station. Noch heute ist Frank Heimann froh, dass niemand ernsthaft erkrankte oder verunglückte. Bei Notfällen hätte man eine zwei Kilometer entfernte russische Station um Hilfe bitten können, die über einen Chirurgen mit Zahnarztausbildung verfügte.
Die Nachricht vom Fall der Berliner Mauer hörten die Männer über Kurzwelle vom BRD-Rundfunksender Deutsche Welle. Wie so viele Zeitgenossen glaubten sie an eine Falschmeldung und vergewisserten sich erst durch einen Rückruf bei den Küstenfunkstellen Rügen und Norddeich Radio, zwei ihrer Verbindungen zur Außenwelt, über die Richtigkeit der Meldungen.
In der Freude über diese Nachricht ahnten sie nichts von den Problemen, die nun auf sie zukommen würden. Denn ihr „Reiseveranstalter“, die Akademie der Wissenschaften der DDR, wurde sofort aufgelöst. Ihr Bargeld war ebenso wertlos wie ihre Konten zu Hause, denn eine Vollmacht zum Umtausch hatte natürlich niemand hinterlegt.
Die beiden Präsidenten der DDR-Notenbank und des Zentralinstituts für Physik der Erde in Potsdam wurden eingeschaltet und einigten sich schließlich, dass in diesem besonderen Fall eine telegrafische Vollmacht reichen würde. Zur Währungsunion am 30. Juni 1990 leistete sich die Stationsbesatzung einen nachvollziehbaren Scherz: Sie zündeten sich ihre Zigarren mit 50-Ostmark-Scheinen an. Nach über 13 Monaten bekamen sie im November 1990 erstmals per Flieger Post von zu Hause. Die russische Antonow 124, das zweitgrößte Transportflugzeug der Welt, landete auf dem Eis eines nahen Gletschers. Als Begrenzung der vier Kilometer langen Landebahn dienten leere Ölfässer.
Ein weiteres Problem musste gelöst werden: Wer sollte die Rückreise durchführen und bezahlen? Es meldete sich das Alfred-Wegener-Institut für Meeres- und Polarforschung aus Bremerhaven, das ihnen Flugtickets spendierte, sie mit dem Forschungsschiff „Polarstern“ abholte und schließlich nach Südafrika brachte – oder besser: bringen wollte. Die Grenzbehörden in Kapstadt ließen sie nicht von Bord: Sie hatten Pässe eines Landes, das es nicht mehr gab und keine Einreisevisa! Wieder wurde die hohe Diplomatie bemüht, der deutsche Konsul in Kapstadt musste eine eidesstattliche Erklärung abgeben, wer, woher, wohin, warum und weshalb so spät? Erst dann konnten sie einreisen. Bei der Ausreise dasselbe nochmal, denn noch immer konnten sie keine gültigen Pässe vorweisen.
Geldkarte nicht mehr gültig
Die Welt hatte sich verändert, als die Antarktisheimkehrer erstmals gesamtdeutschen Boden in Frankfurt/Main betraten. Mit der Geldkarte der DDR konnte Frank Heimann nicht mehr einkaufen, das Telefonsystem war umgestellt, das Autokennzeichen seines Schwiegervaters, der ihn abholte, war SLF (Saalfeld) und ihm völlig unbekannt. Am meisten aber beeindruckte ihn die ungeheure Vielfalt an Lebensmitteln in den Geschäften.
Frank Heimann blieb der Seefahrt treu, er wurde Mitarbeiter bei Hapag Lloyd in Hamburg als Schiffselektrotechniker. Er hat 136 Länder der Erde und alle sieben Weltmeere bereist und doch war einer der bewegendsten Augenblicke seines Lebens, als er mit seiner Frau Hand in Hand zum ersten Mal durch das Brandenburger Tor spazierte und zum Reichstag hinüber blickte, vor dem eine große deutsche Flagge wehte.
Ein Filmangebot, das man den zehn Überwinterern schon in der Antarktisstation gemacht hatte, lehnten sie einmütig ab, denn sie waren der Meinung: Ihre Geschichte ist so außergewöhnlich, sie soll nicht verändert oder ausgeschmückt werden.
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