Frischer Wind aus dem Osten
26.6.2020, 11:33 UhrDoch 1991 kam plötzlich frischer Wind aus dem Osten. Nach der Wiedervereinigung wechselten zahlreiche DDR-Spitzenfahrer in den Westen und RSG-Boß Dieter Burkhardt nutzte die Gunst der Stunde. Er konnte sechs außergewöhnlich talentierte DDR-Radsport-Talente für die RSG gewinnen: Gerd Audehm, Bert Dietz, Darius Matuszek, Steffen Rein, Mike Weissmann und Stephan Gottschling schlossen sich der RSG an.
Als neuer Hauptsponsor engagierte sich die Nürnberger Versicherungsgruppe mit deren radsportbegeistertem Direktor Wolfgang Leiber. Damit begann nun ein neues erfolgreiches Kapitel in der RSG-Geschichte, die weiterhin materielle Unterstützung durch die Firma Hercules erhielt und sich ab 1991 in "RSG Nürnberg" umbenannte. Bereits im ersten Jahr legten die "Neuen" aus den einstigen DDR-Kaderschmieden von Cottbus und Leipzig dermaßen los, dass die Konkurrenten nur noch staunen konnten! Steffen Rein setzte als Deutscher Straßenmeister 1991 die frühere Erfolgsserie der RSG bei Deutschen Radsport-Meisterschaften fort, Gerd Audehm gewann die Rheinland-Pfalz-Rundfahrt und bei weiteren Rundfahrten und schweren Klassikern holten die RSG-Fahrer die Siege in Serie. Einziger Wermutstropfen der Supersaison 1991 war, dass der Bund Deutscher Radfahrer für die WM in Stuttgart die erfolgreichen RSG-Fahrer nicht nominierte — auch nicht Steffen Rein, der die DM wenige Wochen vor der Weltmeisterschaft auf gleichem Kurs vor Erik Zabel gewonnen hatte!
Zurück an der Spitze
"Die RSG-Nürnberg ist nicht nur an die bundesdeutsche Spitze zurückgekehrt, sie zählt auch international zu den besten Amateurteams", stellte RSG-Boss Dieter Burkhardt auch in den folgenden Jahren fest: Nach Steffen Rein holten Stephan Gottschling und Bert Dietz die Einer-Straßen-DM 1992 und 1993. Bert Dietz gewann 1992 die Hessen- und die Thüringen-Rundfahrt. Auch 1993 war der 24-jährige Allrounder nicht zu bremsen. Neben dem Deutschen Meistertitel und zahlreichen weiteren Siegen gewann er die Niedersachsen- und die Rheinland-Pfalz-Rundfahrt!
Auch bei ihrem Heimspiel "Rund um die Nürnberger Altstadt" begeisterte die RSG ihre fränkischen Fans mit einer dreifachen Siegesserie (Gottschling 1991, Dietz 1992, Rein 1993). 1994 war "Bergfloh" Stephan Gottschling in der Form seines Lebens. Bei der Berg-DM in Bad Säckingen ließ er den amtierenden Straßen-Weltmeister Jan Ullrich locker hinter sich! Im Ziel strahlte er mit Udo Sprenger um die Wette. Der Wiesbadener Kripo-Beamte war ab 1994 sportlicher Leiter der RSG.
Zwischen 1991 bis 1995 war die RSG Nürnberg, deren Cracks pro Saison rund 60 Siege errangen, bundesweit der erfolgreichste Radsportverein, wobei sich die bayerischen Neuzugänge Thomas Krön (Strullendorf), Klaus Diewald (Bogen), Andreas Valenta (Regensburg) und Alexander Kastenhuber (Bad Reichenhall) großartig entwickelten! Krön wandelte sich vom Kriteriums-Spezialisten zum gefürchteten Straßensprinter. Berg- und Rundfahrtspezialist Alexander Kastenhuber gewann 1993 die Bayern-Rundfahrt, 1994 die Neukaledonien-Rundfahrt und 1995 die Deutsche Bergmeisterschaft vor Titelverteidiger Gottschling. In Topform war stets auch Klaus Diewald, der 1994 DM-Dritter wurde und als erfolgreichster RSG-Fahrer des Jahres 14 Rennen gewann.
Sprung ins kalte Wasser
Nachdem der Radsport-Weltverband UCI 1995 eine neue Einheitslizenz für nur eine "Eliteklasse" einführte, wagte man bei der RSG Nürnberg den Sprung ins kalte Wasser. "Wir wechseln ins Lager der Profis, denn wir wollen auch künftig Leistungssport auf hohem Niveau betreiben, da bleibt uns keine andere Wahl", begründete Dieter Burkhardt die Entscheidung, die auch der Hauptsponsor akzeptierte.
Als erste deutsche Amateur-Mannschaft wechselten die Nürnberger 1996 in das Lager der neuen Profi-Kategorie "GSII". Mit dem Wiesbadener Bergspezialisten Jens Zemke als neuen Kapitän schlugen sich die zehn fränkischen Radprofis in ihrer ersten Saison sehr wacker. Klaus Diewald und Steffen Rein gewannen zwei Etappen bei der "Tour de Normandie", Mike Weißmann und Andreas Klier wurden Etappensieger bei der Niedersachsen-Rundfahrt und bei der Boland-Bank-Tour in Südafrika. Insgesamt holten die Nürnberger Profis 19 Saisonsiege im In- und Ausland und erkämpften dadurch 367 wertvolle UCI-Punkte!
Mit konstant guten Leistungen überzeugten die inzwischen "Blau-Weißen" auch in den folgenden Jahren alle Skeptiker und überraschten immer wieder mit sehr guten Ergebnissen. Fast hätte es 1999 sogar einen Weltcupsieg für das "Team Nürnberger" gegeben. Bei den "HEW-Cyclassics" in Hamburg spurtete Raphael Schweda im heißen Finish nach 253 Kilometern hinter dem Italiener Mirko Celestino als Zweiter, noch vor dem späteren Weltmeister Roman Vainsteins und Weltcup-Sieger Johan Museeuw über die Ziellinie!
Auch der mehrfache Bahnweltmeister Jens Lehmann, der ab 2001 für das Team Nürnberger startete, zählte in seinem Metier noch immer zur absoluten Weltklasse. Der 34-jährige Leipziger wurde Vize-Weltmeister und Deutscher Meister über 4000 Meter. Für weitere erfreuliche Schlagzeilen sorgte Jens Lehmann 2001 zusammen mit Thomas Liese beim "Grand-Prix EnBW" , einem international und hochkarätig besetzten Paar-Zeitfahren in Karlsruhe. Um nur vier Sekunden verfehlten die beiden Nürnberger nach 72 Kilometern den Tagessieg, den ihnen die Franzosen Christophe Moreau und Florent Brard auf den letzten 1000 Metern vor der Nase wegschnappten. Das Favoriten-Paar Jan Ullrich/Andreas Klöden belegte mit 1:47 Minuten Rückstand nur Platz fünf. Mit 28 Siegen – wovon zwölf die beiden Top-Sprinter Robert Förster und Thorsten Wilhelms feierten – sowie weiteren internationalen Bahnerfolgen von Jens Lehmann konnte das Team Nürnberger 2001 auf seine bislang erfolgreichste Saison zurückblicken!
Ausstieg des Sponsors
Im Februar 2002 stellten die Sportlichen Leiter Udo Sprenger und Uwe Raab eine 19-köpfige Mannschaft vor, in der die bewährten deutschen Asse zusammen mit Fahrern aus Rußland, Tschechien, Polen, Slowenien und Österreich ein starkes internationales Team bildeten. Eine weitere Supersaison war zu erwarten, als eine Woche vor dem Frankfurter Klassiker am Henninger-Turm eine Nachricht einschlug wie eine Bombe: Die Nürnberger Versicherungsgruppe kündigte überraschend ihren Ausstieg als Sponsor an.
"Die finanziellen Anforderungen in der Kategorie der internationalen Top-Teams sind in den vergangenen Jahren explosionsartig gewachsen. Für unser Unternehmen ist es nicht mehr vertretbar, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Nach 12 Jahren fruchtbarer Zusammenarbeit ist uns diese Entscheidung nicht leicht gefallen", lautete die Begründung der Unternehmensleitung. Trotz des Schocks, den diese Nachricht auslöste, zeigten die Nürnberger Profis in den folgenden Wochen weiter ungebrochenen Kampfgeist. Bei der Bayern-Rundfahrt gewann Jürgen Werner sowohl Berg- als auch Sprintwertung!
Auch Sprint-Ass Werner Riebenbauer war noch immer voll motiviert. Vier Mal erkämpfte der schnelle Österreicher bei der Deutschland-Tour den vierten Etappenplatz, bei der Friedensfahrt spurtete er als Zweiter der 1. Etappe ins Ziel, Thomas Liese wurde Fünfter der Gesamtwertung! Sascha Sviben, der neue Mann aus Slowenien, triumphierte beim Klassiker "Rund um die Hainleite" und mit den Plätzen vier und sieben von Riebenbauer und Förster verabschiedeten sich die Nürnberger Profis beim Altstadt-Rennen im September 2002 von ihren fränkischen Fans.
"Unsere Jungs fuhren heute ganz groß und hätten gerade an diesem Tag einen Platz auf dem Treppchen verdient", kommentierte Sportleiter Udo Sprenger sichtbar geknickt die Abschiedsvorstellung seiner langjährigen erfolgreichen Lokalmatadore.
Mit dem Rückzug der Nürnberger Versicherung, die ab 2002 nur noch den Frauen-Radsport der "Equipe Nürnberger" sponserte, kam das endgültige Aus für das fränkische Profi-Team, zumal man trotz vieler Verhandlungen keinen Hauptsponsor fand. Die RSG Nürnberg, für die einige Jugendliche und Amateure noch mehrere Jahre fuhren, existierte jedoch noch immer. Erst im November 2010 entschloss sich der harte Kern des kleinen Vereins mit dem einstigen Gründer Joachim Kröniger, Friedrich von Loeffelholz, Dieter Burkhardt und Dieter Flögel, die RSG zum Ende des Jahres aufzulösen. Ein erfolgreiches Stück fränkischer Radsport-Geschichte ging damit zu Ende!
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