Filmkomponist Julian Scherle
Von Kammerstein nach Hollywood: Tür an Tür mit Morgan Freeman
29.7.2021, 11:04 UhrJulian Scherle aus Volkersgau (Gemeinde Kammerstein), Jahrgang 1985, begann im Alter von sechs Jahren mit dem Musikunterricht. Er spielt Klavier, Gitarre, Saxofon und Bass und besuchte das musische Wolfram-von-Eschenbach-Gymnasium (WEG) in Schwabach. Nach dem Studium am Düsseldorfer Robert-Schumann-Konservatorium lebt er seit 2012 in Los Angeles, wo er als „Assistant Composer“ bei dem Filmkomponisten Klaus Badelt („Fluch der Karibik“, „Gladiator“) begann. Er ist seit 2016 verheiratet mit der Film-Cutterin Spenser Reich.
Scherles Musik ist in Kurz- und Spielfilmen, TV-Serien und Videospielen zu hören. Er schrieb Melodien für „Mr. Robot“ und „American Horror Story“ sowie den Soundtrack für Tonia Mishialis „Pause“. Das von Morgan Freeman produzierte „Princess of the Row“ (2020), mit dessen Musik Scherle laut The Independent Critic „den Film in Realismus und Fantasy taucht und die richtigen Momente von Mut und Staunen, Wahrheit und Liebe einfängt“, thematisiert Obdachlosigkeit und posttraumatische Belastungsstörungen von Kriegsveteranen in einem Vater-Tochter-Drama. Noch dieses Jahr erscheint „Swing“ von Regisseur Michael Mailer. Jörg Weese vom WEG hat den erfolgreichen Filmkomponisten mit mittelfränkischen Wurzeln für unsere Zeitung interviewt.
Julian, wie kommt man eigentlich von Schwabach nach Hollywood?
Die kürzeste Fassung: Man nimmt ein Flugzeug… oder mit ein bisschen mehr Detail: Ich bin in Volkersgau aufgewachsen, hatte aber immer das Gefühl, dass ich in die konservative Atmosphäre einer ländlichen Gemeinde nicht reinpassen würde. Meine erste Band mit ein paar Freunden vom WEG war dann auch eine Punkband. Von Anfang an wusste ich, dass ich was mit Musik machen wollte, und das WEG mit seinem Fokus auf Musik und Kunst bot ein wunderbares Umfeld dafür. Allerdings hab’ ich als Schüler anders gedacht, war kein großer Fan von Autoritäten…
Damit bin ich dann nach Düsseldorf gezogen, um am Robert-Schumann-Konservatorium zu studieren, am Institut für Musik und Medien; da gab es Klassen über Komposition und Gehörbildung – eine Art natürlicher Erweiterung dessen, was ich schon am WEG lernte, dort saß ich im Musik-Leistungskurs bei Ulrich Schaar – ein wunderbarer Lehrer! Der andere Teil des Studiums ging eher in Richtung Ingenieurwesen: wie elektrische Schaltungen funktionieren, ein Kompressor, Equalizer... interessant für den Nerd in mir!
Aber am Ende hatte ich wieder den Drang nach Veränderung, ja sogar das Land komplett zu verlassen. Eine Option war Nepal, wo ich in einem kleinen Dorf als Musiklehrer hätte arbeiten können. Oder eben Los Angeles, denn schließlich sitzt dort die gesamte Filmindustrie. Ich habe am Ende eine Münze geworfen. Ein Stipendium, dann ein Praktikumsplatz... und ich bin seitdem nicht mehr weggezogen. Also, auch wenn sich das wie ein großer Sprung klingt, von Schwabach nach L.A., hat es sich für mich organisch und sinnvoll angefühlt.
Wie hebst du dich von der Konkurrenz ab, auch aus Deutschland selbst – zum Beispiel im Umfeld von Hans Zimmer?
Ich denke, es kommt auf die Herangehensweise an. Ein Ansatz, der sich als sehr effektiv erwiesen hat, ist, als Filmkomponist erst sehr spät in den Schaffensprozess einzusteigen, wenn der Rohschnitt bereits feststeht, vom Cutter oder Regisseur mit einem temporären Soundtrack aus vorhandenen Stücken versehen, und dann „nur noch“ diese Musik zu ersetzen.
Das Blöde daran ist, dass einen das kreativ unglaublich einengt, und wenn man sich zum Beispiel Hans anschaut: Seine Musik wird ständig irgendwo als „Temp Music“ eingesetzt; wenn du als Komponist für einen solchen Film engagiert wirst, heißt das im Grunde, dass die Produzenten etwas haben wollen, das nach Hans Zimmer klingt. Und das ist langweilig, das bringt die Filmmusik nicht voran.
Ich fange lieber total bei Null an: Wer sind die Figuren, was ist die Story des Films, in welche Welt bringen wir die Leute da? Es ist ein langer und frustrierender Prozess; man schreibt vielleicht zehnmal soviel Musik, bis man etwas Passendes findet. Und dann tut sich der Regisseur möglicherweise schwer damit, sich von der Temp Music zu lösen, weil er schon zu sehr daran gewöhnt ist.
Woher bekommst du deine Aufträge?
Oft sind es Leute, mit denen ich in der Vergangenheit schon einmal zusammengearbeitet habe. Wenn du gute Arbeit abgeliefert hast, erinnert sich ein Produzent an dich, und du kommst in die Auswahl für das nächste Projekt. Außerdem hilft es, einen Agenten zu haben, denn bestimmte Studioleute erreicht man anders nicht.
Du fängst mit kleinem Zeug an, mit Kurzfilmen, und irgendwann ist dein Netzwerk groß genug, dass du ständig neue Aufträge bekommst; andererseits kommen auch immer neue Leute nach und du musst deinen Namen im Gespräch halten, denn man kann auch genauso schnell in Vergessenheit geraten.
Wie kommt ein Morgan Freeman zu eurem Projekt „Princess of the Row“? Und wie hat man sich die Zusammenarbeit vorzustellen?
Wir sind die besten Kumpels, er sitzt hier gleich nebenan… Hey Morgan! „Princess“ war ein ganz kleines Indy-Feature mit Minimalbudget; der Produzent hat irgendwann einen Typen auf Skid Row zum Kaffee eingeladen, sie haben sich unterhalten und daher kam die Idee: aus dem Nichts, ohne Studio, keine großen Namen oder so. Die Geschichte ist einfach so relevant und berührend. Auf Skid Row lebt die größte Menge von Obdachlosen in den USA – wirklich erschreckend und traurig, das so etwas überhaupt existieren kann.
Martin Sheen ist wahrscheinlich der bekannteste Schauspieler dabei, neben Edi Gathegi. In Europa kennt man den wohl noch nicht, aber er ist supertalentiert, sollte man im Auge behalten. Der Film hat ein paar Preise auf Festivals gewonnen und so läuft das oft – größere Namen werden nach einiger Zeit aufmerksam. Morgan Freeman ließ ihn sich vorführen und er hat ihm gefallen. Er war nicht direkt daran beteiligt, aber er liebt den Film und seine Botschaft so sehr, dass er bereit war, seinen Namen und den seiner Vertriebsgesellschaft für das Projekt zur Verfügung zu stellen.
Für die Musik dieses Films hast du aus Schrott Instrumente gemacht. Wie war das genau – Mülltonnen als Trommeln und was sonst noch?
Das größte Problem ist, dass L.A. selbst so laut ist, Helikopter, Krankenwagen, Feuerwehrautos, Leute die rumschreien… da findet man etwas, was tolle Geräusche macht, aber kann es nicht so leicht aufnehmen. Ich bin schließlich mit Kontaktmikrofonen durch L.A. gezogen und hab’ überall draufgeklopft und geschaut, ob es gut klingt.
Hat das nicht ein paar Passanten verwundert?
Ach, in L.A. sieht man allerhand verrücktes Zeug; man ist da sehr tolerant – die Leute lassen dich einfach du selbst sein. In einer zweiten Phase hab’ ich dünnes Metall wie von Stuhllehnen mit Geigenbögen gestrichen. Später kamen auch neu gebaute Instrumente dazu. Man braucht auf jeden Fall etwas, um Klang zu erzeugen und einen Resonanzkörper. Ich hatte verschiedene Kategorien, zum Beispiel Metalltöpfe, Gläser oder Flaschen, denen man ja auf unterschiedliche Weise Klänge entlocken kann. Der Durchbruch kam mit einem Einkaufswagen, womit ich eigentlich Percussion-Sounds erzeugen wollte.
Da hätte ich eher an eine Art Harfe gedacht…
Ja, das ginge wohl auch. Also, jedenfalls bringe ich diesen alten Einkaufswagen nach Hause, meine Frau ist erstmal nicht begeistert. Dann denke ich, weil ich gerade dabei bin, verschiedene Gegenstände mit dem Bogen zu bearbeiten: Wie klingt das wohl beim Einkaufswagen? Und tatsächlich, nachdem ich die Plastikummantelung entfernt habe, fängt das Teil an zu singen… das war wirklich cool!
Schreibst du außer den Instrumentalstücken auch beispielsweise Popsongs für die Filme, an denen du arbeitest?
Ich habe auch schon mit Sängern gearbeitet und es macht mir Freude, mit anderen Künstlern zu kollaborieren. Aber Filmsoundtracks sind wirklich ein Vollzeitjob. Bei „Princess“ hatte ich mit den Popsongs nur indirekt zu tun. Die Gesangsparts sind vom improvisierten „Skid Row Chor“ aus Leuten, die da tatsächlich wohnen. Die durften im Studio „freestyle“ singen; ich wollte einfach hören, was aus ihrer Seele kommt, und sie nicht durch mein Zeug einengen. Jessica Childress hat die Songs geschrieben, das ist eine ganz andere Welt und andere Emotionen, die sie beim Publikum anspricht.
Du hast auch an TV-Serien wie „Mr. Robot“ mit Oscarpreisträger Rami Malek mitgearbeitet – was ist dir lieber?
Die größte Herausforderung bei TV-Shows ist der Zeitplan. Bei Mr. Robot hatten wir ungefähr fünf Tage für 40 Minuten Musik, und das ist schon Wahnsinn. Man muss irgendwann einen Qualitäts-Kompromiss schließen, das mache ich nicht so gern. Beim Schreiben von Filmmusik kann man viel mehr ausprobieren, an Details feilen. Wenn mir allerdings jemand anböte, einen eigenen Soundtrack für eine Fernsehserie vom Kaliber eines „Mr. Robot“ zu schreiben, würde ich trotzdem sofort „ja“ sagen.
Woran arbeitest du aktuell? Und wie sieht die nahe Zukunft aus?
Ich bin gerade mit einem Projekt fertig und mache die Endabmischung – da gibt es die üblichen Schweigeverpflichtungen. Aber das andere, „Swing“, war cool, weil ich zum ersten Mal im Leben eine Partitur abgeliefert habe, die dann von einem Orchester gespielt wird. Echt ein geiles Gefühl, das kann man nicht anders sagen. Je nachdem, wie das mit der Pandemie weitergeht, wird der Film hoffentlich spätestens Ende des Jahres rauskommen.
Das Schöne an Filmmusik ist, dass jedes Projekt eine neue Welt eröffnet. Ich hoffe einfach, immer wieder aufregende Projekte zu finden, die mich ansprechen – mehr kann ich mir nicht wünschen, als weiter das Kind sein zu dürfen, das den ganzen Tag spielen kann und dafür auch noch bezahlt wird.
Weitere Informationen gibt es unter startracks.hillvalley.de; Sendetermine: 14. und 28. August 2021, jeweils um 17 Uhr auf MaxNeo (UKW 106.5, Digitalradio dab+ Kanal 10 oder Stream unter www.maxneo.de. Näheres zu Julian Scherle: www.julianscherle.com.