Weltklasse aus Franken: Wie die Wurlitzers die Musikwelt prägten
8.6.2020, 05:56 UhrDie Erfolgsgeschichte der Wurlitzers begann mit zwei Koffern und einem auf einem Parkplatz in Ost-Berlin zurückgelassenen Auto. Heimlich hatten wenige Stunden vorher der Klarinettenbauer Herbert Wurlitzer und seine Frau Ruth die beiden Kinder Ulrich und Gudrun in den Wartburg von Herberts Vater Fritz gepackt. Einen letzten Blick warfen sie aus dem Autofenster auf Erlbach, dann sollten sie ihre Heimat im sächsischen Vogtland jahrzehntelang nicht wiedersehen. Die Fahrt mit dem Wartburg war der Beginn der Flucht aus der DDR.
Niemand durfte davon wissen, nicht einmal der engste Familienkreis. Schließlich schrieb man das Jahr 1959, Republikflucht aus der DDR war auch zwei Jahre vor dem Mauerbau schon brandgefährlich – und auch Mitwisser wurden hart bestraft.
Wie eine Nürnbergerin Harmonika-Instrumente rettet
Und so ließen die Wurlitzers das wertvolle Auto zunächst einfach in Potsdam stehen, stiegen mit zwei Koffern und den beiden Kindern in die S-Bahn und in Friedenau in West-Berlin wieder aus. "Man konnte damals noch so tun, als ob man von Potsdam nach Ost-Berlin fuhr und zwischendurch im Westen aussteigen. Zur Tarnung, falls jemand fragt, hatte mein Vater ein Hotelzimmer in Ost-Berlin gebucht", erklärt Gudrun Wurlitzer, die heute in Neustadt/Aisch lebt.
Standpauke für risikoreichen Ausflug
Tatsächlich kamen sie aber bei einem Musiker der Berliner Philharmoniker unter. Am Abend fuhr Herbert Wurlitzer sogar noch einmal zurück nach Potsdam, holte das Auto und stellte es auf einem Parkplatz in Ost-Berlin ab. "Ich vermute, weil es da weniger auffiel", sagt Gudrun Wurlitzer. Für diesen risikoreichen Ausflug musste er sich aber eine ordentliche Standpauke von seinem Philharmoniker-Freund anhören.
In den ersten Tagen wusste keiner in der Verwandtschaft, wo die Familie abgeblieben war. Dann steckte ein Brief von Herbert Wurlitzer an seinen Vater im Briefkasten. Die Familie machte gerade eine DDR-Rundreise, das Auto konnte in Berlin abgeholt werden, stand darin. "Was ich mit Oma durchgemacht habe, kann sich niemand vorstellen, acht Tage hatten wir kein Mittagessen, eine Aufregung jagte die andere", schrieb eine Schwägerin von Ruth Wurlitzer damals an Verwandte im Westen.
"Zuerst sind wir für ein paar Wochen bei dem Musiker der Berliner Philharmoniker in West-Berlin untergekommen, dann mit British Airways in den Westen geflogen, zuerst zu Verwandten nach Hannover", erzählt Gudrun Wurlitzer.
Haus von den Behörden versiegelt
Das Haus daheim in Erlbach wurde sofort von den Behörden versiegelt. "Die ganzen Möbel und Utensilien wurden unter Linientreuen versteigert. Es waren unter anderem zwei Bilder des heute berühmten Malers Gotthard Graubner dabei. Wir fragen uns noch heute, wo sie hingekommen sind", sagt Wurlitzer.
Schon zuvor hatte sich die Familie mit ihren Klarinetten einen Namen gemacht. Der Betrieb im vogtländischen Musikwinkel, in dem schon der 1659 geborene Nicholas Wurlitzer Lauten gefertigt hatte, hatte nach der Entwicklung der Klarinetten Anfang des 18. Jahrhundert bald auf die beliebten Instrumente der Mozart-Epoche umgestellt.
Auch Gudrun Wurlitzers Großvater Fritz war durch seine Klarinetten schon international bekannt, hatte berühmte Musiker aus ganz Europa zu Gast in Erlbach. Das Unternehmen sollte einmal sein Sohn Klaus weiterführen – doch der fiel 1943 im Krieg vor Leningrad.
Und so war es an Fritz´ zweitem Sohn Herbert, die Manufaktur in die Zukunft zu fahren. "Er war ja Virtuose und hat im Leipziger Gewandhausorchester gespielt. Als Spitzenmusiker hatte er ein extrem gutes Know-how, das dann im Betrieb mit der Handwerkskunst gepaart wurde", erzählt Gudrun Wurlitzer. So konnten Klarinetten gefertigt werden, die bis heute Weltruhm haben.
Wurlitzer-Klarinetten in den erlesensten Orchestern
Wurlitzer-Klarinetten werden in der Mailänder Scala, im Leipziger Gewandhausorchester, im Concertgebouw in Amsterdam, im Chicago Symphony Orchestra, bei den Berliner Philharmonikern, in der Sächsischen Staatskapelle Dresden oder bei den Bamberger Symphonikern gespielt. Berühmte Solisten wie Jörg Widmann, Wenzel Fuchs und Sabine Meyer vertrauen auf die Wertarbeit aus Neustadt (Meyer: "Es gibt eh nichts Besseres"). An Musikhochschulen in Japan und Südkorea lehren Professoren mit Wurlitzer-Klarinetten.
In der heutigen Manufaktur in Neustadt/Aisch wird der Korpus der Holzblasinstrumente aus mindestens zehn Jahre lang gelagertem Grenadill-Holz aus dem südostafrikanischen Mosambik geformt. Die Innenbohrung, der Ursprung des Klangs, beruht auf einem gut gehüteten Familiengeheimnis. Für die Tonlöcher werden spezielle Fräsen verwendet, um einen unverwechselbaren Wurlitzer-Klang zu erzeugen.
Für das Stimmen der Klarinetten kann man auch heute noch auf das musikalische Fachwissen in der Familie zurückgreifen. Wie schon sein Vater hat auch Ulrich Wurlitzer, der heute den Betrieb gemeinsam mit Gudrun Wurlitzers Mann Bernd leitet, lange als hochklassiger Musiker gearbeitet. 20 Jahre lang spielte er die Klarinette bei den Berliner Philharmonikern, war zudem Professor an der Würzburger Hochschule für Musik.
"Immer mehr stranguliert und enteignet"
In der DDR konnten keine Instrumente von Weltrang mehr gefertigt werden. "Es ist immer mehr stranguliert und enteignet worden. Alles ist in eine große Produktionsgenossenschaft geflossen, in der die Standards sehr niedrig waren. Schlechte und Gute wurden in einen Topf geworfen", meint Gudrun Wurlitzer.
Und so machten sich ihre Eltern auf, ohne ein Wort selbst an Großvater Fritz. Der war schon zu alt, um noch enteignet zu werden. Bis zum Alter von 96 Jahren produzierte er im Vogtland weiter Klarinetten. "Sie haben ihm aber alles wegversteuert, was ging. Er hat nicht mehr verdient als ein normaler Arbeiter, obwohl er so herausragende Instrumente geschaffen hat", sagt seine Enkeltochter.
Der Musikwinkel mit den Orten Markneukirchen, Schöneck, Erlbach und Klingenthal in Sachsen sowie Graslitz und Schönbach auf böhmischer Seite waren das Zentrum des weltweiten Musikinstrumentenbaus. "In fast jedem Haus wurden Instrumente hergestellt, das war der absolute Hotspot. Es gab allein 600 Geigenbauer. Und auch viele Großhändler für Musikinstrumente, die die ganze Welt beliefert haben", erzählt Gudrun Wurlitzer. Während Franken lange Jahrhunderte noch sehr bäuerlich geprägt war, war in Sachsen die Hoch- und Bäderkultur überall sicht- und spürbar.
Zunächst nach Bubenreuth, dann nach Neustadt/Aisch
Doch nach dem Zweiten Weltkrieg folgte der Niedergang. In der DDR sanken Qualität und Bedeutung der Anlagen, die Schönbacher Geigenbauer flohen aus dem Sudetenland nach Bubenreuth bei Erlangen. Deshalb bauten auch die Wurlitzers nach ihrer Flucht aus der DDR ihren Betrieb zunächst in Bubenreuth auf, zogen aber schon 1964 weiter nach Neustadt/Aisch, wo sich mehrere Hersteller von Holzblasinstrumenten aus Graslitz niedergelassen hatten.
Und so befindet sich heute in Neustadt der gerade erst erweiterte repräsentative Sitz des Unternehmens, an dem regelmäßig Musiker von Weltrang empfangen und hoch geschätzte Klarinetten gefertigt werden. Produziert wird aber nicht nur dort. Denn auch in der Ursprungsregion der Familie, im Vogtland, gibt es seit 1992 wieder einen Produktionsstandort.
"Nach der Wende gab es da sogar noch Leute, die bei meinem Opa gearbeitet hatten, viele alte Beziehungen und Zulieferer existierten noch. Die Menschen da haben den Instrumentenbau einfach im Blut. Da führte kein Weg dran vorbei, dass wir dort wieder einen Standort aufbauen", erzählt Gudrun Wurlitzer, die als Architektin unter anderem das Palais Milchhof in Nürnberg gestaltet hat und für den Umbau der Nürnberger Kunsthalle verantwortlich war.
Wohnhaus für die Eltern entworfen
Ihren Eltern Herbert und Ruth entwarf sie 1985 in Neustadt ein Haus, schuf ihnen damit lange Jahre nach der Flucht endlich ein standesgemäßes neues Zuhause und erfüllte ihnen einen Lebenstraum. Auch an ein großzügiges Musikzimmer wurde gedacht, das Platz für kammermusikalische Privatkonzerte bietet. Heute wohnt Gudrun Wurlitzer selbst mit ihrem Familie in dem Haus. "Für uns waren Klarinetten und berühmte Musiker im Haus immer ganz normal. Wir sind ganz natürlich damit aufgewachsen. Wie auf einem Bauernhof – nur dass es eben eine Klarinettenmanufaktur war", erzählt sie.
Keine Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen