Matinée von NN und Staatstheater

Semiya Şimşek zu zehn Jahren NSU-Selbstenttarnung: "Wir sind immer noch nicht sicher"

Max Söllner

Volontär

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2.11.2021, 18:30 Uhr
Spannendes Podium zu den Fragen der NSU-Morde: (von links) Moderatorin Elke Graßer-Reitzner, Martina Mittenhuber vom Menschenrechtsbüro der Stadt, Günther Beckstein, Redakteurin Ella Schindler und Semiya Şimşek.

© Roland Fengler, NNZ Spannendes Podium zu den Fragen der NSU-Morde: (von links) Moderatorin Elke Graßer-Reitzner, Martina Mittenhuber vom Menschenrechtsbüro der Stadt, Günther Beckstein, Redakteurin Ella Schindler und Semiya Şimşek.

"Bis heute ist dieses Netzwerk nicht enttarnt, nicht in Ansätzen. Nicht einmal den Haupttätern sind die Ermittler auf die Spur gekommen, elf Jahre tappten sie im Dunkeln. Es war der NSU, der sich selbst geoutet hat", sagte NN-Redakteurin Elke Graßer-Reitzner, die das Podium moderierte. Sie arbeitet in einer gemeinsamen Recherchegruppe von NN und Bayerischem Rundfunk, die die Hinterleute und Helfershelfer des NSU in Franken beleuchtet.

Auch Günther Beckstein ist überzeugt, dass das Terrornetzwerk regionale Helfer hatte. Jedoch gibt es dem früheren bayerischen CSU-Ministerpräsidenten und damaligen Innenminister zufolge derzeit keine neuen Ermittlungsansätze. Für Semiya Şimşek, die Tochter des Blumenhändlers Enver Şimşek, den der NSU in Nürnberg ermordet hat, ist das kein zufriedenstellender Zustand: "Für uns als Familie ist es wirklich wichtig, auch die Helfershelfer zu ermitteln." Denn: "Wenn wir nichts dagegen tun, dann heißt es zwar nicht NSU, aber vielleicht Halle und Hanau. Dann wir es weitergehen", sagte sie.

"Hört der Schutz von Informanten nicht auf, wenn wir zehn Mordopfer haben?"

Ein großes Problem sieht Graßer-Reitzner darin, dass Mitarbeiter des Verfassungsschutzes wegen des Schutzes ihrer Informanten und V-Leute aus der Szene immer nur eingeschränkt in Prozessen ausgesagt und deswegen viel Wissen nicht preisgegeben haben. "Hört der Schutz von Informanten nicht auf, wenn wir zehn Mordopfer haben?", fragt sie und will von Beckstein wissen, ob nicht Gesetzesänderungen nötig seien. Der aber verweist darauf, dass die gängige Praxis von breiter Mehrheit "für richtig empfunden" wurde.

Semiya Şimşek erkennt darin einen Widerspruch: "Wir möchten zwar aufklären, wir möchten ermitteln, aber wir möchten nichts an der Struktur ändern." "Man ist mit Vorurteilen an die Sache rangegangen", sagt die 35-jährige Sozialpädagogin über die ihrer Meinung nach rassistischen Ermittlungen nach dem Tod ihres Vaters. Es sei stärker in Richtung Kriminalität und Drogen als "nach rechts" geschaut worden. Şimşek: "Wir waren sozusagen die Kinder eines Drogendealers".

Wichtige Bildungsarbeit

Als Lehre aus dem NSU-Terror möchte Martina Mittenhuber, die Leiterin des Nürnberger Menschenrechtsbüros, die Auseinandersetzung mit Rassismus voranbringen. "Wir müssen die Generation der heutigen Jugendlichen sensibilisieren, damit so etwas nicht mehr passiert", sagte die Initiatorin der Allianz gegen Rechtsextremismus in der Metropolregion. Bildungsarbeit sei deshalb ein wesentlicher Bestandteil des städtischen Umgangs mit der Terrorserie. Sie verwies etwa auf den interkulturellen Mosaik-Jugendpreis – und rund 140 weitere Formate, die sich allesamt dem Thema Diskriminierung widmen.

Daneben gebe es ein zentrales Mahnmal an der Straße der Menschenrechte sowie Gedenktafeln an den Tatorten. "Unsere nächste Aufgabe wird es sein, diese einzelnen Gedenkorte sinnvoll miteinander zu verbinden", sagte Mittenhuber. Das kollektive Erinnern an den NSU müsse ein "Stachel im Fleisch der Stadtgesellschaft" sein.

Begriff "Döner-Morde" als "Versagen"

Ella Schindler, NN-Redakteurin und Mitglied im Vorstand der Neuen deutschen Medienmacher und -macherinnen, lenkte den Blick auf die Rolle der Medien. Die hätten "viel Geschirr zerbrochen", lautete ihr Fazit. Den Begriff "Döner-Morde", wie er in der Nürnberger Zeitung und später von fast allen anderen Medien verwendet wurde, bezeichnete sie als "Versagen".

Generell hätten migrantische Gruppen bis heute nicht das Gefühl, dass ihre Perspektive aufgegriffen werde. "Man hat sich nur auf das gestützt, was die Polizei geboten hat, und das unreflektiert wiedergegeben und nicht mit den betroffenen Familien gesprochen." Auch wenn die Redaktionen dieses Landes heute sensibler seien, hätten diese noch viel wiedergutzumachen. Sie müssen diverser werden – und gegenüber "bestimmten Stellen" weiterhin lästig sein.

"Noch nicht mittendrin in der Gesellschaft"

Semiya Şimşek betonte, sich im heutigen Deutschland weder wohl noch sicher zu fühlen: "Wir sind immer noch nicht sicher, wir sind immer noch nicht mittendrin in der Gesellschaft." Doch auch in der Türkei, wo sie inzwischen mit ihrer Familie lebt, komme sie nicht richtig an.

Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU und 21 Jahre, nachdem Enver Şimşek zum ersten NSU-Opfer wurde, bleibt noch viel zu tun.