230 Tage Keller und der Club: Der Weg an den Rand der Katastrophe
26 Bilder 30.6.2020, 09:09 UhrDas Kapitel Jens Keller ist beim 1. FC Nürnberg endgültig beendet. Nach 230 Tagen gehen der Trainer und der Club getrennte Wege - und der Verein steht am Rande der dritten Liga. Wie konnte es so weit kommen? Eine Geschichte, die holprig begann und mit dem Beinahe-Totalschaden vorzeitig endet. © Sportfoto Zink / Daniel Marr
Für Jens Keller begann alles mit einem Kracher. "Ein geileres Spiel gibt's doch nicht", sagte er während einer seiner ersten Pressekonferenzen als Trainer beim Club - und meinte damit das anstehende Derby gegen die SpVgg Greuther Fürth. Ein prestigeträchtiges Debüt in der Nachbarstadt ... © Sportfoto Zink / Thomas Hahn
... aber kein fußballerischer Leckerbissen. Fürth dominierte den Club zuhause klar, so klar wie selten in einem Frankenderby. Dass der eingewechselte Iuri Medeiros in den letzten Sekunden alleine auf das Kleeblatt-Tor zulief und kläglich scheiterte, passt ins Bild. Ein torloses Unentschieden zum Start, kein Befreiungsschlag, aber eben auch keine Katastrophe. Die wartet, zumindest der Stimmungslage beim Club nach, aber nur eine Woche später. © Sportfoto Zink / Daniel Marr
Im heimischen Max-Morlock-Stadion gegen den SV Wehen Wiesbaden offenbarte sich der 1. FC Nürnberg erstmals als ernstzunehmender Abstiegskandidat. Die Hessen sind mittlerweile im Gegensatz zum Noch-Relegationsclub abgestiegen - kein Spitzenteam also. Gegen einen desolaten FCN aber wirkten die Gäste wie eines. Die Club-Spieler hingegen? Sie irrlichterten in der Defensive, wirkten kraftlos, sie taumelten. 0:2. © Sportfoto Zink / Daniel Marr
Etwas mehr als zwei Wochen nach seiner Verpflichtung muss Trainer Jens Keller bei seinem Heimdebüt zum Rapport in die Nordkurve. Er wolle "die Fans wieder hinter den Verein" bekommen, sagte er damals. Geklappt hat das mit, vorsichtig ausgedrückt, Abstrichen. "Wir haben die Schnauze voll!", skandierten die Ultras. Der Club taumelt in Richtung Abgrund - und Jens Keller wirkt erstmals etwas ratlos. © Sportfoto Zink
Schon in der Hinrunde mehren sich die Alarmzeichen dass diese Saison ein katastrophales Ende nehmen könnte. "Jeder muss sich bewusst sein, dass das nicht nur eine Phase ist", warnte etwa Johannes Geis, der vor der Saison nach Nürnberg gewechselt war. Gegen Stuttgart wird das einmal mehr deutlich, der VfB fesselt den Club mit einem 3:1 im Tabellenkeller. Und die Mannschaft muss erneut in die Kurve. © Sportfoto Zink / Daniel Marr
Neben Jens Keller eines der Gesichter der schier endlosen Club-Krise: Kapitän Hanno Behrens. Zwei Jahre zuvor noch Leader, Identifikationsfigur, Botschafter eines neuen Club - jetzt stolpert er über den Platz, kassiert in den Noten der lokalen Presse Fünfer und Sechser. Auch im nächsten Spiel, gegen Holstein Kiel, liefert der Kapitän eine mäßige Leistung ab. Dass es am Ende nicht zu drei Punkten reicht liegt aber an einem anderen Akteur. © Sportfoto Zink
In der dritten Minute der Nachspielzeit kollabierte der FCN, zumindest gefühlt. Kiels Stefan Thesker stieg am höchsten und traf zum 2:2-Ausgleich. Jens Keller wartet weiter auf seinen ersten Dreier - und der Verein stürzt endgültig in eine tiefe Vorweihnachts-Depression. © Sportfoto Zink / Wolfgang Zink
Der 1. FC Nürnberg kann einfach nicht mehr gewinnen, so scheint es. Er kann es aber doch. Robin Hack rettet gegen Dynamo Dresden mit einem Doppelpack Weihnachten, zumindest irgendwie. Die Bilder nach Abpfiff? Sprechen Bände, der Club wirkt als habe er gerade den Abstieg abgewendet. Rein spielerisch zündete der FCN kein Feuerwerk ab, aber es reichte. "Wir sind wahnsinnig erleichtert, dass wir mit einem Erfolgserlebnis ins neue Jahr gehen", wird Jens Keller nach Abpfiff sagen. © Sportfoto Zink / Wolfgang Zink
In den nächsten Wochen wird Jens Keller oft vorgeworfen werden, er wirke emotionslos, gleichgültig, nicht nah an der Mannschaft. Bei diesem Sieg gegen Dynamo Dresden aber ist das anders. © Sportfoto Zink / Wolfgang Zink
Die Botschaft von Keller ist klar: Der Club hält zusammen - und packt an. Nach einer Mini-Winterpause bittet er schon am 4. Januar zum Trainingsauftakt im winterlich-angezuckterten Nürnberg. Nur eine Woche später setzt der FCN ein erstes Ausrufezeichen, schlägt im Test den FC Bayern München deutlich mit 5:2. "Furioser FCN blamiert die Bayern", titelt etwa nordbayern.de. © Sportfoto Zink / DaMa
"Wenn wir unseren Plan umsetzen und als Mannschaft funktionieren", sagte Jens Keller nach dem Spiel, "können wir es auch Bayern München schwer machen." Allzu vielen Gegnern schwer machte es der Club in der Rückrunde aber nicht. Nach einem Trainingslager in der Sonne Andalusiens ... © Sportfoto Zink / Daniel Marr
... hagelte es beim vermeintlichen Neustart gegen den Hamburger SV eine saftige 1:4-Klatsche. Ein Spiel, in dem deutlich wird, dass es dem 1. FC Nürnberg schlichtweg an Qualität fehlt, Qualität, die sich nur bedingt mit Willen kompensieren lässt. Etwas mehr als einen Monat nach dem Dynamo-Erfolg ist die Stimmung im Verein wieder dort, wo sie in dieser Saison Dauergast ist: im Keller. © Sportfoto Zink / Daniel Marr
Der Club kann es aber eben doch, und das sogar in Folge. Gegen Sandhausen siegt der FCN mit 2:0, Frey, der Stürmer, der häufig hinter den Erwartungen blieb, traf per Kopf - und flog vom Platz. Damit fehlte er im Auswärtsspiel gegen Osnabrück, doch auch dort fuhr die Keller-Elf einen Dreier im Abstiegskampf ein. Dort springt Kapitän Hanno Behrens in die Bresche und köpft den Club ins Glück. Jens Keller fühlt sich derweil genötigt ... © Sportfoto Zink / Daniel Marr, Sportfoto Zink / DaMa
... gegen die Medien auszuteilen. "Was hier nach dem Hamburg-Spiel alles kaputt geredet wurde, das war schon Wahnsinn", sagte er. Der Club-Coach wünscht sich mehr Zeit, mehr Geduld, weniger Fatalismus. Das naturgemäß nervöse, zum Teil sogar wilde Umfeld beim FCN empfindet er als zu aufgeregt. © Sportfoto Zink / Daniel Marr, Sportfoto Zink / DaMa
In den kommenden Spielen produziert der Club aber eben auch kaum Beruhigendes für den Zirkus um den Verein. Nach einem noch passablen Remis gegen Heidenheim folgen drei Niederlagen gegen Darmstadt, Hannover und St. Pauli, unterbrochen lediglich von einem glücklichen 1:0-Sieg über Karlsruhe. Allesamt Teams, mit denen sich der FCN auf Augenhöhe fühlt. Es waren vermeidbare Pleiten, etwa im Heimspiel gegen Darmstadt, wo zwei kapitale Aussetzer der Keller-Elf den Dreier kosteten. © Sportfoto Zink / Wolfgang Zink
Die Pandemie erfasst auch den Club. Erst wird Verteidiger Fabian Nürnberger positiv getestet, dann steht der ganze Kader unter Quarantäne. Jens Keller nutzt die Zeit, um in sich zu gehen. "Man merkt mal wieder, dass es im Leben einfach deutlich Wichtigeres und größere Probleme gibt als Fußball, als ein Spiel", sagt er. "In seinem kleinen Kosmos regt man sich ja gerne auch mal über Lapalien auf, die eigentlich nicht der Rede wert sind." © Sportfoto Zink / Daniel Marr, Sportfoto Zink / DaMa
Nach acht Wochen Pause standen Jens Keller und seine Mannschaft Anfang Mai wieder gemeinsam auf dem Rasen. Zuvor übten sie nur in Kleingruppen, kommunizierten über Videochats, wahrten die Distanz. Keine einfache Situation, auch für den Coach, der Tag um Tag Vorbereitungen für den Neustart traf. Dem Spielbetrieb in der Liga stand Keller immer skeptisch gegenüber - und warnte vor der Verletzungsgefahr bei seinen Spielern. "Es geht hier auch um Menschen und man darf nicht zuviel riskieren", sagte er. © Sportfoto Zink / Screenshot Livestream FCN / WoZi, Sportfoto Zink / Screenshot Livestream FCN / WoZi
Wirklich viel Zeit bekam Keller nicht. In einem der ersten Trainings nach dem Neustart riss sich Paul-Philipp Besong das Kreuzband - die Warnungen des Coachs schienen sich zu bewahrheiten. Und nur zehn Tage nach Wiederaufnahme des Mannschaftstraining musste der Club gegen St. Pauli ran. © Sportfoto Zink / DaMa
Es sind Tage, in denen auch Pleite-Gerüchte die Runde am Valznerweiher machen - Gerüchte, denen die Verantwortlichen schnell widersprechen. Doch es geht um viel für den Club, der Abstieg hätte wohl enorme wirtschaftliche Folgen, die sich derzeit nur erahnen lassen. Doch der Druck scheint zu groß. Vier Unentschieden in Folge lassen den FCN immer weiter in den Keller schlittern. © Axel Heimken, dpa
Es sind Momente, in denen Vereine eigentlich zusammenrücken. Doch auf die phsyische Unterstützung der Fans müssen Keller und der Club wegen der Corona-Pandemie weiter verzichten - Geister-Kulisse! Der FCN tritt auf der Stelle und rutscht auf den Relegationsrang ab. © Daniel Marr/ Sportfoto Zink
Ausgerechnet jetzt ein Frankenderby. Ein Spiel, das normalerweise seinen Schatten über Wochen voraus wirft - das aber in der akuten Abstiegsnot des Club fast zur Fußnote wird, zumindest mit Blick auf den Gegner aus der Nachbarstadt. "Wichtig ist, dass wir unterm Strich über dem Strich stehen", versuchte sich Jens Keller vor der Partie in einem Mix aus Pathos und Philosophie. Es ist die 56. Spielminute, in der sich der Himmel über Nürnberg endgültig verdunkelt, die Minute, in der Fürths David Raum das einzige Tor in diesem Spiel erzielt. Ein verlorenes Derby als Genickbruch, als Knockout? © Wolfgang Zink/Sportfoto Zink
Möchte man meinen, aber: dieser Club ist eben auch unberechenbar. Gegen den SV Wehen Wiesbaden trumpft die Keller-Truppe auf und schießt sich den Frust von der Seele. Robin Hack trifft dreifach, Ansger Sörensen (im Bild) doppelt - und Adam Zrelak macht den Deckel auf ein furioses 6:0. "Das tut der Mannschaft unheimlich gut", sagte Jens Keller unmittelbar danach. Doch der Club schien gefangen zwischen Euphorie und Abstiegsangst, zwischen Gelöstheit und Anspannung. So richtig wusste kaum einer mit dem Gefühls-Wirrwarr umzugehen. © Sportfoto Zink / Daniel Marr, Sportfoto Zink / Daniel Marr
"Wir müssen die Sache entscheiden", sagte Jens Keller vor dem richtungsweisenden Spiel gegen den VfB Stuttgart. Das Kollektiv gewinnt, so das Credo des Trainers. Das Kollektiv aber versagte, und das mit Karacho. Nur fünf Tage nach dem furiosen 6:0-Sieg hagelte es gegen den Aufstiegskandidaten aus Schwaben eine saftige 0:6-Niederlage. Symptomatisch für den Club in dieser Saison: Ein Schritt nach vorne, zwei zurück. "Alles, was wir uns am Dienstag aufgebaut haben", sagt Keller nach Abpfiff, "haben wir mit zwei Händen eingerissen." © Sportfoto Zink / Daniel Marr, Sportfoto Zink / Daniel Marr
Der Club steht vor dem letzten Spieltag aber eben nicht auf dem Relegationsrang, sondern einen darüber. Zwei Punkte trennen den FCN, zwei Punkte, die eigentlich den sicheren Klassenerhalt bedeuten. Doch die Keller-Elf vergeigt es auf dramatische Weise. Ein Remis gegen Kiel ist zu wenig, weil Karlsruhe gegen Fürth gewinnt - und damit über eben jenen "Strich" springt, den Jens Keller noch so philosophisch beschrieb. © Sportfoto Zink / Daniel Marr
"Wir wollten heute den Sack zumachen. Das ist uns heute nicht gelungen", sagt Jens Keller nach der Partie. "Jetzt müssen wir halt eine Ehrenrunde drehen." Ein Zitat, das für viel Ärger bei den Club-Fans sorgt, die sich in ihrem Vorwurf der Emotionslosigkeit bei ihrem Trainer bestätigt fühlen. In die Ehrenrunde muss der Club, das ist seit vergangenem Wochenende klar. Die letzten Meter aber geht der FCN ohne Jens Keller. © Sportfoto Zink / Daniel Marr