NN: Ihnen geht es um die zweite Ebene: Welche ethischen Argumente sprechen gegen eine Wiederaufnahme des Spielbetriebs?
Dabrock: Ich halte diese Idee medizinisch und epidemiologisch für unverantwortlich – sowohl mit Blick auf die Teams, aber auch mit Blick auf die abertausenden zu erwartenden Fantreffen, lauter Mini-Ischgls. Praktisch halte ich sie für undurchführbar und juristisch für problematisch. Vor allen Dingen hielte ich es für gesellschaftlich fatal, sogar verheerend, sollte jetzt wieder gespielt werden. Wenn es hier eine Vorzugsbehandlung für eine proportional kleine und sowieso schon privilegierte Gruppe geben sollte, wäre das gegenwärtig das völlig verkehrte Signal – auch im Blick auf die Corona-Testkapazitäten, die in anderen Bereichen dringend notwendig sind.
NN: Die DFL argumentiert, dass sie nur 0,4 Prozent der Tests benötigt. Und dass die vorhandenen Kapazitäten derzeit gar nicht genutzt werden.
Dabrock: Aber mit Verlaub – 0,4 Prozent für den Fußball, der bei weitem nicht 0,4 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Und ob wir wirklich verlässlich – und ein Konzept ist nur ein Konzept, wenn es auf Verlässlichkeit beruht – Überkapazitäten haben, kann man mit Fug und Recht bezweifeln. Denn es gibt wohl erhebliche regionale Unterschiede, und, vor allem, niemand weiß, ob das so bleibt. Es wäre vor allem viel sinnvoller, ja ethisch geradezu geboten, die bisher nicht genutzten Testkapazitäten zunächst in systemrelevanten Bereichen so umfangreich wie möglich zu nutzen – überall dort, wo Menschen in elementarsten Lebensvollzügen eingeschränkt sind, in Alten- und Pflegheimen oder Kitas und Schulen, oder dort, wo Menschen anderen helfen: in Krankenhäusern. Dort gehören möglichst viele Tests hin, nicht im Fußball, der schön ist, Freude macht – aber nicht notwendig ist.
"Besorgnis um die Bundesliga überspannt"
NN: Die Vereine, die sich fast komplett vom Fernsehgeld abhängig gemacht haben, halten dagegen, es gehe – wie in anderen Branchen – ums wirtschaftliche Überleben. Soll man ihnen antworten: Dann geht ihr eben in Insolvenz? Selbst schuld, weil ihr auf Sand gebaut und nicht nachhaltig genug gewirtschaftet habt?
Dabrock: Das wäre kaltherzig und unfair. Aber zunächst wird offensichtlich, dass der Fußball wirtschaftlich auf Sand gebaut hat, aber man muss fairerweise sagen: Niemand konnte damit rechnen, dass ein System auf diese Weise ausgebremst werden könnte. Und die Finanzkonzepte der deutschen Klubs sind ja vergleichsweise noch solide. Nur können die Finanzprobleme kein Grund sein, eine medizinische und juristische Sonderbehandlung gegenüber anderen Branchen zu rechtfertigen – zumal das Gesundheits- und Hygiene-Konzept der DFL mir nicht tragfähig erscheint.
NN: Viele Fachleute, auch viele Politiker halten es allerdings für durchdacht und schlüssig – und sogar für eine Möglichkeit, eine Exit-Strategie zu entwickeln und auszuprobieren.
Dabrock: Wenn man das Konzept nur für sich betrachtet, mag das auf den ersten Blick stimmig erscheinen. Aber diesen Ansatz halte ich das im besten Sinne für naiv, im schlimmsten Fall für eine bewusste Täuschung. Verfassungsrechtlich könnte man sagen: Weil ein Konzept vorliegt, ist das Verbot nicht mehr verhältnismäßig. Nur gibt es aber andere Bereiche, die auch geschlossen sind, wo die Grundrechte von zudem vulnerablen Gruppen massiv eingeschränkt sind, oder solche, die mit Blick auf die Pandemiebekämpfung gesellschaftlich wesentlich relevanter sind. Wenn es epidemiologisch möglich ist, hat die Politik alles daran zu setzen, dass gemäß dieser Dringlichkeit dort zuerst Lockerungen durchgeführt werden. Solange es beispielsweise bei Kitas keinen Fahrplan mit Datumsangaben gibt, erscheint die Besorgnis um die Bundesliga überspannt.
NN: Ein sportlich-ethischer Neben-Aspekt: Beim 1. FC Köln gibt es jetzt drei positive Corona-Tests. Steigen am Ende die Mannschaften ab, die das Pech hatten, mehrere erkrankte Spieler zu haben?
Dabrock: Das kann man nicht ausschließen und das würde selbst in der Binnensicht des Fußballs zeigen, wie absurd die Idee ist, die Saison fortzusetzen. Wir reden ja nicht von Zerrungen und Faserrissen, die auch Folgen einer falschen Trainingssteuerung sein können, oder von Erkrankungen, die zum allgemeinen Lebensrisiko gehören, wir sind in der Situation einer vollständig externen Bedrohung für den Fußball. Weitere positive Tests könnten, je nachdem, wie die Kontaktpersonen eingestuft werden, zur Quarantäne ganzer Mannschaften führen. Das Spiel verlöre sämtlichen Reiz.
Die kritischere Phase kommt erst noch
NN: Also: Der Fußball muss sich in Geduld üben?
Dabrock: Wie wir alle. Ich befürchte, dass jetzt ein erkennbar neuer Ton in die Debatten kommt, jetzt, da wir in die anaerobe Phase der Pandemiebekämpfung kommen, in die Phase, in der es weh tut. Die Bereitschaft, Einschränkungen zu akzeptieren und solidarisch zu sein, könnte durch die Bundesliga-Eröffnung einen schweren Schaden nehmen. In der Erstphase ging es darum, den Kopf über Wasser zu halten, jetzt kommt die kritischere, die gesellschaftlich noch herausforderndere Phase, jetzt gilt es, noch viel, viel sorgfältiger zu sein, weil es den langen Atem braucht. Und das Gefühl: Es geht einigermaßen gerecht zu – gerade wenn es hart wird. Wenn man dann die Fußballmillionäre bevorzugt, wäre das ein fatales Signal an die ganze Gesellschaft. Wie soll man da die Leute bei der Stange halten?
NN: Nun gibt es aber viele Menschen, die sich nach Erlebnissen von vermeintlicher Normalität sehnen. Fußball zum Beispiel, zur Zerstreuung, zur Abwechslung, auch: zur Freude daran. Was sagen Sie denen?
Dabrock: Der Wunsch ist völlig nachvollziehbar, ich vermisse den Fußball ja auch, und ich verstehe jeden, der die geliebte Zerstreuung wieder haben will. Auf der anderen Seite dürfen unzählige Menschen seit Wochen Alten- und Pflegeheime nicht mehr verlassen. Die Frage lautet: Was ist eher verzichtbar? Wo soll als erstes die geballte gesellschaftliche Anstrengung hinein, wohin knappe Güter wie die wichtigen Tests? Wenn man sich ein bisschen vom eigenen Interesse distanziert, sollte die Antwort klar sein.