Feindbild Ultras: Generationenkonflikt in deutschen Stadien
1.5.2017, 19:08 UhrWer sich nach der "guten alten Zeit" sehnt, ist meist schon etwas betagter. Ich zumindest kenne niemanden in meinem Alter (29), der bei Diskussionen jeglicher Art ernsthaft dieses Argument in die Waagschale wirft. Es gibt sicherlich Ausnahmen. Aber mehrheitlich wird die "Früher war alles besser"-Karte von meiner Elterngeneration, den Babyboomers gespielt.
Ultras verstehen sich selbst als junge, vom Sturm und Drang getriebene Bewegung mit klaren Prinzipien. Es ist bezeichnend, dass Kritikern oft nichts anderes einfällt, als alle Handlungen der einschlägigen Gruppierungen per se mit "Kindergarten"-Vergleichen oder als "pubertäres Verhalten" abzutun. Dabei schwingt die typische Arroganz der älteren Generation gegenüber der jüngeren mit. Ja, auch die heute Alten waren mal jung. Jedoch war damals, in den 60ern und 70ern, die Bevölkerungsstruktur eine andere. Die damals Jungen waren in der Überzahl. Hatte sich unter ihnen ein Werte-Konsens gebildet, hatte das Gewicht gegenüber der Generation der damals Alten.
Dass die Jungen bewährte Normen hinterfragen und gegebenenfalls auch umwerfen, ist der Motor jeglichen gesellschaftlichen Fortschritts. Dieser Motor ist ins Stottern geraten. Der Grund: Jetzt sind die damals Jungen zwar alt, doch sie sind weiterhin in der Mehrzahl, da immer weniger Junge nachkommen und die Menschen generell immer älter werden. Wir leben in einer Zeit des gesellschaftlichen Stillstandes: Die Alten würden am liebsten alles so bewahren, wie sie es kennengelernt haben, mit Veränderungen tun sie sich schwer. Sie sitzen in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen - und in den Schalensitzen der Stadien. Was, wenn die Ultras vielleicht doch Recht haben in einigen Dingen, die sie anprangern und für die sie stehen? Um dem auf den Grund zu gehen, müsste man sich erst einmal mit ihren Positionen auseinandersetzen, ihnen zuhören, sie respektieren.
Doch die alten Nörgler kommen lieber kurz vor Anpfiff in das Stadion, Bratwurstbrötchen und Bier in der Hand, rufen während des Spiels hier und da mal was dazwischen und gehen dann fünf Minuten vor Abpfiff, um nicht im Stau zu stehen. Das ist ja auch in Ordnung - jedem das Seine. Doch dann eine Bewegung wie die der Ultras, von der sie selbst nicht viel verstehen und deren Mitglieder sie gerne alle über einen Kamm scheren und vorverurteilen, nur für ihren jugendlichen Überschwang oder Protestaktionen - wie beispielsweise kürzlich in Nürnberg - das Fansein absprechen zu wollen, ist höchst fragwürdig. Letztendlich sind Ultras nämlich genauso zahlende Kunden wie die Bratwurst- und Bier-Fans. Und aus den Reihen der Ultras hört man derartige Anfeindungen gegenüber den eigenen (!) "Normalo"-Fans nicht.
Gewalt in und um das Stadion sowie geschmacklose Schmähungen gegenüber Einzelpersonen wie Hoffenheim-Mäzen Dietmar Hopp sind zu verurteilen. Wer aber alleine die Ultra-Bewegung mit Ausschreitungen, Pöbeleien und anderen Verfehlungen gleichsetzt, hat es nicht verstanden. Denn diese Phänomene gab es auch schon früher zuhauf, man denke nur daran zurück, was sich ein Uli Hoeneß in den 90ern in deutschen Arenen alles gefallen lassen musste. Ja, auch und vor allem in der "guten alten Zeit". Wir sprechen hier schließlich von Fußball. Und der ist und bleibt für alle da: Alte und Junge, "Normalos" und Ultras.
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