Würde man Carlo Wild zufällig begegnen, privat, käme man vielleicht auf die Idee, gerade einen Buchhändler kennenzulernen, einen mit einem kleinen, gut sortierten Laden. Wild liebt die Literatur, daheim stehen über 3500 Bücher in den Regalen – keines über Fußball, selbst in seinem Büro in der Nürnberger Badstraße, wo das Feuilleton der Zeit auf dem Stuhl neben dem Schreibtisch liegt, deutet wenig darauf hin, dass er ein sehr bekannter, vielleicht sogar Deutschlands bekanntester Fußballreporter ist. In Fußballreportern vermuten viele Menschen Fans, die aus ihrer Leidenschaft einen Beruf gemacht haben.
35 Jahre beim kicker: Es begann in Badelatschen
Carlo Wild aus Seligenporten in der Oberpfalz, der in Erlangen Latein und Geschichte studierte, liebt Fußball, schon immer, immer noch und mit aller Skepsis gegenüber einem oft aufgeblähten, sich selbst und seine Bedeutung überschätzenden Betrieb. Aber es ist sein Beruf, der ihm Leidenschaft bedeutet, auch wenn er das wohl zurückhaltender formulieren würde. Wenn Wild, ein sehr herzlicher und charmanter Mann, von seiner Arbeit erzählt, versteht man, warum er sich einen eher schüchternen Menschen nennt, einen, "der sich damals als Neuling gar nicht getraut hätte, die renommierten Kollegen einfach anzusprechen", wie er sagt, "aus lauter Respekt"; er habe "sehr geschwitzt", als er die ersten berühmten Fußballer beruflich traf.
Diese Grundhaltung, den Respekt, hat er sich immer bewahrt, in Wilds Reportagen und Interviews begegnet man einem feinfühligen, scharfsinnigen Beobachter, der kritische Distanz und Empathie auf besondere Weise verbindet. Es sind lehrreiche, unterhaltsame, oft berührende Texte, nachzulesen im Fachmagazin kicker, das gerade seinen hundertsten Geburtstag feiert. Der Chefreporter Karlheinz Wild, den alle nur Carlo nennen, ist seit 35 Jahren dabei, denkt aber immer noch an den Moment, "als mir das Herz in die Hose gerutscht ist", wie er sagt – an jenen Tag, als er seine Bewerbung um ein Volontariat abgab und dabei, in Trainingshosen und Badelatschen, völlig überraschend vor Karl-Heinz Heimann stand, dem legendären Herausgeber und Chefredakteur, einem Monument in der deutschen Medienlandschaft.
Wild hatte eine Reha-Einheit hinter sich, er hatte sich, im Fußballtrikot der Amateure des 1.FC Nürnberg, das Schienbein gebrochen, auf dem Weg zum Altgriechisch-Kurs wollte er lediglich die Bewerbungsunterlagen an der Pforte abgeben. Als er später – im Anzug und mit Krawatte – mit leicht zitternden Knien zum Bewerbungsgespräch antrat, hatte Heimann eine erste Frage: "Herr Wild, wollen Sie heiraten?"
Mit Keinem hat Wild so oft telefoniert wie mit Uli Hoeneß
Das berufliche Ja-Wort hat Wild nie bereut, obwohl später viele um ihn warben, die Sport-Bild, sehr hartnäckig auch die Süddeutsche Zeitung, deren langjähriger Sportchef Ludger Schulze einmal erzählte, Wild sei "der einzige Wunschkandidat" gewesen, den er nie bekam. Der kicker ist ihm eine Heimat geworden, darum, sagt Wild, ist er dankbar, um die vielen Menschen, die er kennenlernen durfte, um die Fußball-Weltreisen, um "Erlebnisse und Erfahrungen, die den Horizont erweitern", um "alles, was ich hier habe, ein schönes Aufgabengebiet, Freiheiten".
Carlo Wild gehört zu den inzwischen als eher altmodisch verdächtigen Menschen, die dafür etwas zurückgeben wollen. Wenn es sein muss – und es muss oft sein –, ist der Feingeist auch Akkordarbeiter, in der digitalen Welt erscheint der kicker nicht mehr nur zweimal wöchentlich gedruckt, sondern 24 Stunden am Tag. "Ich habe nie auf die Uhr geschaut", sagt Wild, nachts um drei aufzustehen, weil es die beste Zeit war, um den Bundestrainer Jürgen Klinsmann in den USA zu erreichen, war selbstverständlich. Als Chefreporter begleitet Wild die Nationalmannschaft und den FC Bayern München, "mit keinem Menschen im Leben", überlegt er, "habe ich so oft telefoniert wie mit Uli Hoeneß", dem Welt- und Europameister, dem späteren Manager und Präsidenten des FC Bayern. Bis heute siezen sie sich.
100 Jahre jung: Der kicker feiert Jubiläum
Wild besuchte Franz Beckenbauer in Kitzbühel, daraus wurde sein Lieblingsinterview, weil Beckenbauer redete, wie manchmal nur Beckenbauer reden kann – und keine Presseabteilung so eingriff, wie es später üblich werden sollte, als die Branche damit begann, Zitate glattzubügeln, um "Kunstfiguren", wie Wild es nennt, zu schaffen. Für gute Texte streitet er gerne. In Wilds Porträts lernt man Menschen kennen, nicht nur Fußballer, es gehört zur Wertschätzung des Gegenübers, findet er, sich gewissenhaft auf solche Begegnungen vorzubereiten. Es sind Gespräche wie die mit dem lustig-nachdenklichen Thomas Müller, auf die er sich freut; Müller und anderen geht es, wie man hört, umgekehrt genauso.
Die Liebe zum Spiel und die Leidenschaft fürs Leben
"Du liebst Fußball zu sehr", hat Wild zwar gerade einem geschätzten jüngeren Kollegen gesagt. Aber ohne die Emotionen, die dieses Spiel weckt, mag er sich Fußball natürlich nicht vorstellen. Als sich der Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld unter Tränen verabschiedete, bekam auch Wild feuchte Augen, "ich bin", sagt er, "schon nahe am Wasser gebaut". Und der Lieblingsverein seines Vaters, der 1. FC Nürnberg, hat auch Wild nie ganz losgelassen, "das sind die väterlichen Gene", vermutet der Sohn. Wer diese Leidenschaft nicht versteht, kann kaum darüber schreiben – nicht so schön wie Carlo Wild.
Es gibt wahrscheinlich keinen Fußballer, den Wild nicht persönlich kennenlernte, aber auf die Frage, ob Freundschaften gewachsen seien in den über drei Jahrzehnten, muss er etwas länger nachdenken. "Es ist schwer, so ein großes Wort zu gebrauchen", sagt er, "aber wahrscheinlich würde mich Jupp Heynckes einen Freund nennen" – und man kann sich beide, den Trainer und den Redakteur, ganz gut vorstellen, wie sie, auf Heynckes’ Bauernhof, am Küchentisch sitzen, zwei Menschen von ganz ähnlichem Berufs-Ethos, denen es peinlich wäre, Aufhebens um sich zu machen.
Fußballreporter neigen dazu, sich zur Szene zu zählen, manche aus Eitelkeit, manche aus Begeisterung. Carlo Wild hat sich nie über die vermeintliche Wichtigkeit des Betriebs, den er begleitet, definiert, "das Tor der Kleinen", wie er sagt, stand ihm näher, obwohl er schon als aktiver Fußballer nah am großen Tor stand. Mit den Amateuren des 1. FC Nürnberg, für die er gemeinsam mit dem jungen Dieter Eckstein spielte, einem späteren Publikumsliebling und Nationalspieler, stieg er in die Bayernliga auf.
"Der Amateur Wild ist in technischer Hinsicht vielen FCN-Profis überlegen", schrieb damals die Nürnberger Zeitung über den Studenten, bloß: "Ich war zu langsam", sagt Wild – und gleich drei Schienbeinbrüche halfen immerhin, sich aufs Hochschul-Examen zu konzentrieren. Carlo Wild wäre bestimmt ein guter Lehrer geworden, aber als Mitarbeiter der Neumarkter Nachrichten hatte er eine Leidenschaft fürs Leben entdeckt, "wie eine heilige Halle" kam ihm das Redaktionsgebäude vor.
Abteilungsleiter in Seligenporten: "Uli Hoeneß für Arme"
Er schrieb über Fußball, aber auch über Rock-Konzerte, manchmal hörte er die Frage der Fußballfreunde, ob er statt zum Auswärtsspiel nicht lieber zur Friedensdemonstration nach Bonn fahren würde. "Links angehaucht", sagt Wild, fühlte er sich damals, Fußball sollte nie der alleinige Mittelpunkt seines Lebens werden, und zum Tor der Kleinen zog es ihn immer wieder zurück.
Den "Uli Hoeneß für Arme" hat ihn jemand einmal genannt, als spöttisch, sagt Wild, habe er das nicht empfunden. Es waren die Jahre, als er zu Hause beim SV Seligenporten, wo er zuvor die Jugend trainiert hatte, der Fußball-Abteilungsleiter war und mithalf, die damit ein wenig berühmt gewordenen Klosterer aus der damaligen A-Klasse bis in die Regionalliga zu führen. Von Hoeneß, erzählt Wild, habe er sich einiges abgeschaut – bis alles doch zu viel wurde, denn Carlo Wild, 62 Jahre alt, ist vor allem: Familienmensch, Ehemann, Vater von zwei Kindern und ein sehr begeisterter Großvater.
"Herr Wild, Sie spielen zu viel Fußball"
Aus der Schweiz fuhr er von der Europameisterschaft 2008 für einen Abend nach Hause, zum Abiturball der Tochter. Der Abschied von der Familie fällt ihm immer schwer, aber der kicker, "mein kicker", wie Wild sagt, gehört beinahe schon dazu. Was er dem Magazin zum Jubiläum wünscht? Noch viele, viele Jahre und Jahrzehnte, auch – in Zeiten des schnelllebigen digitalen Journalismus – für die gedruckte Ausgabe.
Es hätte aber auch alles ganz anders kommen können. Um ein Volontariat hatte sich Carlo Wild damals zunächst bei den Nürnberger Nachrichten beworben. Zum Bewerbungsgespräch kam er mit einem Gips am Bein; Doktor Fritz Aschka, ein eher sportferner Theologe und Legende gewordener Personalchef, empfing ihn mit den Worten: "Herr Wild, Sie spielen zu viel Fußball." Das sollte immer so bleiben.