Gewaltexzesse auf Frankens Fußballplätzen: Aytekin warnt

Wolfgang Laaß

NN-Sportredaktion

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28.11.2019, 16:42 Uhr

Der Stargast sieht müde aus und ist es auch. Das Wochenende hat Deniz Aytekin wegen eines EM-Qualifikationsspiels in Aserbaidschan verbracht, die gut zwei Stunden zuvor im ClubHaus am Jakobsplatz, auf Einladung seines Schiedsrichter-Freundes Gerd Lamatsch. Sie kennen und schätzen sich seit Jahrzehnten, Aytekin hat selbstverständlich zugesagt. Es geht um Lamatschs neues Buch ("Keller Schiri"),also vorrangig um den Videobeweis, aber auch um absichtliches Handspiel und Nachspielzeit, solche Sachen.

Nürnbergs hoch dekorierter Fifa-Referee steht Rede und Antwort und muss hin und wieder schmunzeln, auch über sich selbst. In Aserbaidschan hat er ein klares Handspiel im Strafraum übersehen, aber nicht so tragisch, "das Spiel war schon entschieden". Kurz vor Schluss der Veranstaltung wirkt Aytekin aber plötzlich sehr ernst, als er selbst noch ein Thema anspricht. Dieoffenbar zunehmende Gewalt auf Fußballplätzen, auch gegen Schiedsrichter, beschäftigt ihn, und das nicht erst seit der Diskussionsrunde im ClubHaus.

Respekt und "kriegsähnliche Zustände"

"Wir müssen daran arbeiten, dass auch im Fußball der Respekt gegenüber der Person, die da entscheidet, wieder zunimmt", sagt Deniz Aytekin, auch unter Spielern kracht es in unschöner Regelmäßigkeit, selbst in der Bundesliga. Der viel diskutierte Rempler des Frankfurters David Abraham gegen Christian Streich, den Trainer des SC Freiburg, veranlasste einen von Aytekins ehemaligen Mitstreitern zu einer ausgesprochen drastischen Behauptung.

"Kriegsähnliche Zustände" seien das mittlerweile, schrieb Bild-Kolumnist Thorsten Kinhöfer in seiner Boulevardzeitung, "wir haben eine unfassbare Aggression auf dem Platz." Von null auf 100 im Bruchteil einer Sekunde, ein schiefer Blick genügt – und schon knallt’s. Kinhöfer ist ja vom Fach, nur seit ein paar Jahren eben auch Bild-Mitarbeiter und somit auf Krawall und Übertreibung programmiert.

 

 

 

Abraham ist vom DFB-Sportgericht für sieben Wochen gesperrt worden und muss 25.000 Euro Strafe zahlen, die Eintracht bittet ihren Kapitän ebenfalls zur Kasse. In seiner Urteilsbegründung fand auch der Vorsitzende Richter Hans E. Lorenz mahnende Worte: "Das, was oben passiert, findet seine Wiederholung an der Basis." Kriegsähnlich?

Bobic, ein Kopfstoß und der ASV Fürth

Eine Gossen-Aktion wie die vor 19 Tagen im Schwarzwaldstadion ist nicht Abrahams Erfindung, Rangeleien und Tätlichkeiten gab es "auch vor zehn, 20 oder 30 Jahren", versicherte Frankfurts Sportvorstand Fredi Bobic unlängst im ZDF . Im Dezember 2005 etwa musste der MSV Duisburg sogar Norbert Meier zwangsentlassen, weil der erfahrene Trainer damals meinte, den Kölner Profi Albert Streit mit einem Kopfstoß niederstrecken zu müssen. Damals fielen beide um, in Freiburg bloß Streich.

Dramatisch gesunken ist in letzter Zeit die Hemmschwelle; selbst objektive Nichtigkeiten können eine Situation brutal eskalieren lassen, so wie kürzlich bei der U19-Begegnung ASV Fürth gegen die SG Burggrafenhof/ Laubendorf. Im Polizeibericht ist von Tumulten die Rede und "wechselseitigen Körperverletzungen", ein 17-Jähriger soll einen 18-Jährigen im Verlauf der Auseinandersetzungen gegen den Kopf getreten haben. Das schon länger miserable Image des ASV ist mit der nächsten Unbeherrschtheit eines seiner Jugendlichen nicht besser geworden; in der vergangenen Saison hat die U19 38 Sanktionen kassiert, darunter acht Zeitstrafen und fünf Rote Karten, und das in 20 Spielen. Einige beim ASV hätten ihr Temperament nicht unter Kontrolle, hört man, zudem seien Provokationen der Fürther, die unzählige Nationalitäten und auch Flüchtlinge in ihren Mannschaften vereinen, eher die Regel als die Ausnahme. Und wenn dann der Erste ausflippt, die Nerven verliert, ist es meistens auch schon zu spät.

Im Kreis Nürnberg/Fürth ging's los

Aytekin kriegt das natürlich alles mit, er lebt in Oberasbach und pfeift für den TSV Altenberg. Auch der heutige Fifa-Schiedsrichter hat mal ganz klein und ganz weit unten angefangen; im Winter 2004/05 leitete er noch Partien der Hallenmeisterschaft im Kreis Nürnberg/Fürth. "Die Kunst der Kommunikation“, nannte das der junge Aytekin damals in den Nürnberger Nachrichten, „man muss mit den Spielern im Bedarfsfall vernünftig reden.“ Oder sie auch mal anschreien, wie dem in der ARD veröffentlichten Schiedsrichter-Funk vom Bundesligaspiel Leipzig gegen Wolfsburg zu entnehmen ist. Aytekin laut, Aytekin energisch, Aytekin in Topform. So wie man ihn kennt. Und wie man wohl als moderner Schiedsrichter sein muss, um nicht unterzugehen.

Seinen beachtlichen Aufstieg hat Aytekin nicht zuletzt seiner natürlichen Autorität zu verdanken; knapp zwei Meter misst er und kann wie auf Knopfdruck auch richtig böse schauen, der 41-Jährige stellt etwas dar auf dem Feld. Und ist schlau genug, die Lage nicht zu dramatisieren, selbst wenn sich die Negativschlagzeilen häufen. Offizielle Verbandsstatistiken können den gefühlt signifikanten Anstieg von unerlaubten Handlungen jedoch nicht bestätigen.

"Der Fußballwettbewerb in Deutschland läuft friedlich und störungsfrei", frohlockte der Deutsche Fußball-Bund im September 2018 gar, das seit 2014 anhand von Online-Berichten der eingeteilten Schiedsrichter gezeichnete Lagebild gibt demnach offiziell kaum Anlass zur Sorge. Lediglich 0,05 Prozent der bundesweit rund 1,3 Millionen registrierten Spiele in der Saison 2017/18 mussten nach Gewalt- oder Diskriminierungsvorfällen abgebrochen werden, insgesamt 672, in 0,31 Prozent oder 4212 Fällen ist es zu tätlichen Übergriffen gekommen. In Bayern passiert relativ betrachtet sogar noch weniger; 2018/19 sind 67 Abbrüche verhandelt worden (2016/17: 58), wegen Verletzung der Platzdisziplin durch Zuschauer oder Tätlichkeiten gegen Spieler und Schiedsrichter, im Schnitt liefen damit 0,029 Prozent aller Partien im Freistaat komplett aus dem Ruder. Die Zahl der Übergriffe auf Schiedsrichter lag etwas höher (225/0,096 Prozent), Tendenz steigend. Zwar nur leicht, aber steigend.

Von "kriegsähnlichen Zuständen" möchte Aytekin trotzdem nicht sprechen, er vertritt einen etwas gemäßigteren Ansatz; Ex-Kollege Kinhöfer, glaubt Aytekin, wollte vor allem wachrütteln, sensibilisieren, "auf die bedenklichen Entwicklungen im Amateurfußball hinweisen und die Vorbildfunktion aller Akteure im Profifußball." Von der an turbulenten Wochenenden vielerorts nicht mehr viel übrig ist.

"Da haben sie einen Linienrichter umgehauen"

Am Tag nach der Buchvorstellung im ClubHaus ruft Aytekin an, um auf den nächsten Zwischenfall hinzuweisen. TuS Rüssingen gegen Alemannia Waldalgesheim, Verbandspokal-Halbfinale Rheinland-Pfalz. "Da haben sie einen Linienrichter umgehauen, Wahnsinn", sagt Aytekin am Telefon, das Video wird nach wie vor munter geklickt auf YouTube und in den sozialen Medien. Und provoziert nicht nur Bestürzung. "Die verbalen und körperlichen Übergriffe gegen Schiedsrichterkollegen in den Amateurligen", gibt Aytekin zu, "haben mich auch schockiert, so was hat im Fußball nichts zu suchen." Ihn hat es auch schon mal erwischt, vor über 20 Jahren, nach einem Kreispokalspiel. Ein Spieler des mittlerweile aufgelösten SV Napredak folgte Aytekin bis auf den Parkplatz und trat ihm kräftig gegen das Schienbein, mehrere Personen, erzählt Aytekin, seien nötig gewesen, um den Angreifer abzudrängen. Dieses Erlebnis sei schlimm gewesen, sagt Aytekin, die Freude an seinem Hobby war aber stärker.

Auch die angeblich ach so heile Fußball-Welt hat Woche für Woche ihre Brennpunkte, in unteren Klassen vorrangig soziale. Konflikte entstehen mitunter spontan und ohne Vorwarnung, werden aber, und da liegt der gravierende Unterschied zu früher, nicht mehr zwangsläufig vom Fair-Play-Gedanken entschärft. Mögliche Konsequenzen werden von den Übeltätern offenbar in Kauf genommen; in Südhessen ist ein Amateur-Spieler nach einer Attacke auf einen Schiedsrichter jetzt für drei Jahre aus dem Verkehr gezogen worden.

Übertreibung und ein familiärer Auftrag

Eine zweijährige Sperre bekam ein Fußballer aufgebrummt, nachdem er vor vielen Jahren versucht hatte, Gerd Lamatsch zu schlagen. "Er ist von hinten gekommen und wollte mir eine wischen", erinnert sich der ehemalige Bundesliga-Assistent, der bereits über 1800 Partien geleitet hat. In einer davon wäre auch er beinahe fällig gewesen; Lamatsch konnte sich gerade noch wegdrehen und verzichtete auf eine Zivilklage.

Kriegsähnliche Zustände? "Man muss ein bisschen vorsichtig sein, dass man es nicht übertreibt", sagt Lamatsch. Dass Freiburgs Trainer Christian Streich ein paar Minuten später den Mann umarmte, der ihn kurz zuvor niedergestreckt hatte, gehört schon auch irgendwie zur Geschichte von Krieg und Frieden auf deutschen Plätzen.

Die Fußballfamilie, fordert Deniz Ayteklin im ClubHaus, "muss zusammenhalten." Und schaut dabei so ernst wie sonst höchstens nach einer Rudelbildung.

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