Steher-Legende
Horst Gnas: "12.000 Kilometer jährlich machen mich stolz"
16.10.2021, 06:00 UhrDas Holz der Sitzbänke: morsch und verwittert. Der Rasen: verwildert Überall wächst Gebüsch und Gestrüpp, auch dort, wo es nicht hingehört. Die Fußwege sind bedeckt mit Laub, Zweigen und Dreck. Ein trostloser Anblick, der sich dem Auge bietet. Das letzte Mal, das diese Rad-Rennbahn einen Zuschauer gesehen hat, ist bereits über vier Jahre her. Seitdem kümmert sich niemand mehr um sie. Ein Lost-Place, mitten im belebten Ortsteil Reichelsdorf.
Herr Gnas, Sie sind ja noch in voller Rad-Montur. Waren Sie etwa schon radeln?
Ja, ich komme gerade von einer lockeren 70 Kilometer Runde gemeinsam mit alten Freunden.
Wow, 70 Kilometer in Ihrem Alter, dass muss erst einmal jemand nachmachen.
Ja, aber ich fühle mich auch nicht als wäre ich 80 Jahre alt. Das Radfahren trägt einen großen Teil dazu bei.
Wir sind jetzt hier an der Rennbahn, wo ihre Steherkarriere begann. Wie fühlen Sie sich bei dem verlassenen Anblick?
Es ist sehr traurig. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie hier bis zu 15.000 Menschen gejubelt und gefeiert haben. Steher-Rennen waren etwas ganz besonderes im Kalender und der Reichelsdorfer Keller ja auch eine Rad-Hochburg damals. Hier auf der untersten Tribüne steht man nur knapp einem Meter von der Bahn entfernt, sehen Sie? Das war ein einmaliges Erlebnis, wir waren teilweise mit bis zu 90 Kilometer pro Stunde unterwegs.
Kommen die Erinnerungen wieder hoch an die alten Tage?
Ich erkenne es sofort wieder. Hier unten aus dem Tunnel kamen wir heraus mit unseren Rädern und gleich daneben auf der Wiese standen die Maschinen. Als ich das erste Mal aus dem Tunnel gefahren bin und 10.000 Zuschauer gesehen habe, war das ein tolles Gefühl.
Wie sind Sie denn "Steher" geworden? War das Faszination?
Klar, durch die Tradition hier in Reichelsdorf hat es jeder zwangsläufig probieren müssen. Ich war zwar auch ein sehr guter Straßenfahrer, konnte mehr als 200 Rennen gewinnen. Aber als jeder in meinem Umfeld Steherrennen gefahren ist, dachte ich mir: Das musst du jetzt auch probieren. Früher hieß es dann immer gemein: Die Straßenfahrer, die nichts mehr können, werden dann halt Steher. Das stimmt aber nicht, viele sind daran verzweifelt, weil es sehr schwierig ist. Natürlich hatte ich im ersten Jahr auch so meine Probleme aber dank meines sehr guten Schrittmachers Bruno Walrave konnte ich mich schnell entwickeln.
Welche Erinnerungen haben Sie an die drei Weltmeistertitel?
An den ersten in Varese und an den zweiten in Marseille schöne Erinnerungen. An meinen dritten in San Sebastian eher keine guten. Ich bin die beiden Jahre davor mit meinem Schrittmacher Walrave gefahren, wir waren ein eingeschworenes Team. Plötzlich verkündet mitten in der Nacht der Weltverband, dass Steher und Schrittmacher aus dem selben Land kommen müssen. Das war um 0 Uhr - und plötzlich darf ich nicht mehr mit meinem Schrittmacher fahren. Ich war natürlich schon für das Finale qualifiziert. Dann hat mein Bundestrainer damals noch extra Hans Käb einfliegen lassen, mit dem ich noch nie davor gemeinsam gefahren bin. Trotzdem wurden wir zum dritten Mal Weltmeister, aber die Umstände waren extrem nervenaufreibend.
Bei Geschwindigkeiten von bis zu 90 Kilometer pro Stunde - gab es schlimme Stürze?
Gab es. Ich kann mich noch an einen Sturz hier auf dieser Bahn erinnern, und zwar da hinten bei der 200-Meter-Marke. Das war ein unnötiger Sturz, weil hier ein gegnerischer Schrittmacher sein eigenes Rennen fahren wollte. Er ist von hinten auf uns aufgefahren und wollte überholen, dann kam es zum Sturz.
Gibt es dann auch eine schönste Erinnerung hier auf dieser Radbahn?
Klar, 1970 war hier die Deutsche Meisterschaft, ich bin als Favorit ins Rennen gegangen und war dann als Zweiter im Ziel, das war für mich ein großer Erfolg. Was ich auch nie vergessen werde: Ich habe damals mehr als 800 Deutsche Mark Sympathieprämie von den Zuschauern erhalten. Hier hat meine Steher-Karriere angefangen.
Ihre Frau ist 1973 kurz nach dem dritten Weltmeisterschaftssieg tödlich beim Radfahren verunglückt. Hatten Sie danach keine Gedanken, Ihre Karriere zu beenden?
Ich wurde zum dritten Mal Weltmeister, komme nach Hause und die Frau verunglückt tödlich. Ich habe mir die Frage gestellt, machst du weiter? Denn ich hatte die Form meines Lebens und habe mich dafür entschieden. Doch ehrlicherweise ging es ab dann eher bergab, 1974 hatte ich einen Bruch in der Hand, 1975 einen Bruch im Oberschenkel, was zum Karriereende 1976 führte.
Wie viel Kilometer fahren Sie heute noch jährlich?
Zwischen 10.000 und 12.000 Kilometer auf der Straße sind es schon. Darauf bin ich sehr stolz den in meinem Alter ist das absolut keine Selbstverständlichkeit mehr sondern ein Privileg.
Radfahren ist ein wichtiger Teil Ihres Lebens, das wird sofort klar. So agil und flink wie Sie noch mit 80 Jahren herumspringen könnten Sie auch als ein 60-Jähriger durchgehen.
Ja ich fühle mich auch im Kopf freier. Wenn ich nach einer Radrunde nach Hause komme, habe ich oft die besten Ideen. Vor zwei Jahren war ich mit meinen Enkelkindern in Berlin und bin dann mit dem Rennrad über den Thüringer Wald nach Hause gefahren. Ich bin einfach froh, dass ich es noch machen kann. Ich habe keine Beschwerden, das Radfahren hilft mir dabei, jung zu bleiben. Ich fühle mich nicht wie 80.
Wie sehen Sie als Szenenkenner die aktuelle Entwicklung des Radsports in Deutschland?
Auf der Straße sehe ich eine generell gute Entwicklung. Auf der Bahn leider nur im Osten, die geben sich dort mehr Mühe als hier bei uns. Hier in der Region gibt es aber auch immer wieder Talente, insbesondere auf der Straße, die sich gut entwickeln.
Die Talente von heute sind früher oder später mit dem Thema Doping konfrontiert. Gibt es Unterschiede zwischen heute und früher?
Also ich musste auch früher auch schon zur Doping-Kontrolle, doch für mich persönlich war das nie ein Thema. Heutzutage sieht es in unserem Sport vielleicht anders aus, aber ich möchte mich dazu nicht äußern.
Wenn es eine Entscheidung gäbe, die Sie rückwirkend verändern könnten, welche wäre das?
Keine. Ich bereue nichts und würde alles wieder genauso machen. Ich bin froh, dass ich mit dem Radfahren angefangen habe, mir macht das Spaß. In der Jugend war ich unheimlich ehrgeizig und habe viel trainiert, das hat mir in meinem weiteren Leben weitergeholfen.
Haben Sie noch Kontakt zu damaligen Weggefährten?
Ja noch einige. Die fahren zwar nicht mehr so viel wie ich, aber wir treffen uns immer noch regelmäßig. Die sind immer wieder erstaunt, wie fit ich noch bin. Das macht mich unheimlich selbstbewusst. Ab und zu fahren wir auch mal am Berg etwas intensiver, das macht Spaß. Ein paar sind aber leider schon Verstorben.
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