Lockdown im Amateursport: "Ein ganz großer Fehler"
31.10.2020, 07:55 UhrHerr Kainzinger, Sie dürfen zum Einstieg kurz Bundeskanzlerin sein. Welche Vorgaben hätten Sie am Mittwoch für den Profi-Sport und die dazugehörigen Großveranstaltungen gemacht?
Dr. Florian Kainzinger: Ich kann nachvollziehen, warum die Politik so entscheidet. Man hat die Zahlen, wie sich die Situation in den kommenden Wochen entwickeln wird und dass man da gegensteuern will, ist richtig. Was ich mir aber wünschen würde ist, dass man sich differenzierter damit auseinandersetzt, wo es Ansteckungsketten – und wo nicht.
Sie würden bei den gesellschaftlichen Bereichen stärker unterscheiden.
Kainzinger: Das wäre meine rosa-rote Traumwelt. In der Praxis ist das aber natürlich schwer umzusetzen, weil sie nicht für jeden Bereich eigene Regeln aufstellen können. Und wenn die Zahlen eine dramatische Entwicklung voraussagen, dann legt man lieber eine Vollbremsung hin.
Das heißt, der Bundeskanzler Florian Kainzinger würde den Hygienekonzepten des Experten Florian Kainzinger trauen?
Kainzinger: Aus Compliance-Gründen sollte man nicht auf beiden Seiten sitzen, aber ja, ich würde meinen und anderen Konzepten, die gut gemacht sind, vertrauen. Wir können uns nicht zwei Jahre lang einsperren und nicht alle paar Monate einen Lockdown machen. Wir fahren im November runter, damit wir alle schön Weihnachten feiern können und dann haben wir das Thema im Januar oder Februar wieder, wenn wir die klassische Erkältungssaison haben? Das Thema Impfung wird uns sicher nicht in den ersten Monaten 2021 retten und deswegen bin ich der Meinung, dass man mehr Dinge kontrolliert lernen müsste.
Was aber nicht zur Agenda passen würde, Kontakte zu reduzieren und wenn möglich zu Hause zu bleiben.
Kainzinger: Wir können nicht einem Thema – einem zugegeben wichtigen Thema – alles unterordnen und viele andere hinten runterfallen lassen: Da hängen Existenzen dran, die psychische Gesundheit vieler Menschen. Das blenden wir aus und laufen momentan stur in eine Richtung.
Konkret auf den Sport heruntergebrochen: Das vollständige Verbot von Zuschauern in den kommenden Wochen geht Ihnen zu weit?
Kainzinger: Ja. Gerade im Outdoor-Bereich. 5000 Menschen im Berliner Olympiastadion sind weder auf den Rängen noch bei der Abreise ein Problem.
Vereine haben viel Zeit und Geld in die Hygienekonzepte investiert. Ein Experiment in Leipzig bei einem Konzert hat gezeigt, dass die Ansteckungsgefahr hier sehr gering ist. Könnten diese Erkenntnisse dazu führen, dass es demnächst doch noch Lockerungen gibt bei Großveranstaltungen?
Kainzinger: Nein, das glaube ich nicht. Die Ergebnisse dieser Studie überraschen mich nicht, weil sie das stützen, was alle Experten, Hygieniker und Raumlufttechniker sagen, mit denen ich zusammenarbeite und unsere bisher durchgeführten Messungen bestätigen.
Sind Ihnen denn Fälle bekannt, bei denen es trotz eines guten Konzepts zu Ansteckungen gekommen ist?
Kainzinger: Nein. Wir werten gerade Daten aus. Fußball, Basketball und Handball haben ja alle schon Spiele mit Zuschauern ausgetragen. Ansteckungen sind mir da keine bekannt, was nicht heißt, dass es gar keine gab. Es wird auch kein zu 100 Prozent sicheres Konzept geben, aber wenn Sie in den Supermarkt gehen oder mit der U-Bahn zur Arbeit fahren, gibt es auch ein Risiko sich anzustecken.
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Betrachten Sie es als Fehler, alle Entscheidungen von einem einzelnen Wert und einer Ampel abhängig zu machen?
Kainzinger: Nein, das nicht. Wir lernen alle dazu: Politiker, Wissenschaftler, Veranstalter. Wir wussten im Frühjahr fast noch nichts, im Sommer schon einiges und jetzt wissen wir wieder etwas mehr. Das heißt nicht, dass es kein Ampelsystem mehr braucht, aber dass man es vielleicht anders gestalten müsste; sich zum Beispiel mehr an Risikogruppen zu orientieren und nicht die Ansteckungszahlen über alles zu stellen.
Sie haben die psychische Gesundheit angesprochen. Auch der Amateur- und der Kindersport muss wieder ruhen, dabei wäre Bewegung und Ablenkung wohl gerade jetzt wichtig.
Kainzinger: Ich halte das für einen ganz großen Fehler. Da findet eine Differenzierung statt: Der Unterricht ist noch wichtig, aber Freizeit und Bewegung wird schon eingeschränkt. Wir verlieren da vielleicht keine ganze Generation, aber wir fangen an, einen ganzen Jahrgang zu verlieren.
Wie können wir den Teufelskreis durchbrechen?
Kainzinger: Wir werden eine Herdenimmunität brauchen auf Basis von Impfungen und überstandenen Infektionen. Wir müssen lernen damit umzugehen und Wege finden, wie diese Durchseuchung langsam stattfinden kann. Das klingt hart, aber auch die Impfung ist nicht das heilbringende Mittel und wenn sie da ist, ist nicht automatisch für immer alles gut. Wir wissen nicht, ob sie auf Dauer schützt oder nur eine gewisse Zeit. Wir können nicht mehr wie früher alles unkontrolliert zulassen und so tun, als gäbe es das Virus nicht, aber wir müssen uns anpassen.
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