Taliso Engel: Ein Nürnberger, der durchs Wasser schwebt
21.9.2019, 10:05 UhrVielleicht wird man in einigen Jahren sagen, dass dieser 12. September 2019 den Auftakt zu einer der ganz großen Karrieren im deutschen Schwimmsport markierte. Auf jeden Fall aber wird sich Taliso Engel sein ganzes Leben lang daran erinnern, wie er im legendären Londoner Aquatics Center auf den letzten Metern den Usbeken Firdavsbek Musabekov überholte und nach 1:05,20 Minuten als Erster am Beckenrand anschlug.
Weltmeister der paralympischen Athleten über 100 Meter Brust – mit gerade einmal 17 Jahren. Und mit einer Zeit, die noch Anfang der 70er Jahre auch bei den Nichtbehinderten Weltrekord bedeutet hätte. Mit Gold für den Nürnberger hatte zuvor niemand gerechnet – nicht einmal er selbst. Obwohl Engel spätestens 2018 mit der Bronzemedaille bei der EM seine internationale Klasse nachgewiesen hatte. Doch Weltmeister, das schien kaum vorstellbar, schon gar nicht bei diesen Titelkämpfen, die der Nürnberger begonnen hatte, ohne im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein. "Ich habe mich zweieinhalb Wochen vor der WM erkältet. Die Halsschmerzen habe ich recht schnell wegbekommen, aber der Schnupfen hat sich noch lange gezogen", berichtet er.
Die Sehschwäche hat auch Vorteile
Seinen Start über die 400 Meter Kraul hatte er deswegen absagen müssen. Im Vorlauf über seine Paradestrecke, die 100 Meter Brust, lief es dann aber überraschend gut. Persönliche Bestzeit. Eine Zeit, die der freundliche, fast schüchtern wirkende Engel im Finale nochmals unterbot. So schnell wie kein deutscher Behindertensportler jemals zuvor pflügte er durchs Wasser. "Die ersten Tage konnte ich gar nicht realisieren, was da passiert ist", erzählt Mutter Cosima, die auf der Tribüne saß, als ihr Sohn die versammelte Weltelite distanzierte.
Taliso ging es ähnlich sagt er, "riesig gefreut" hat er sich trotzdem. Genauso über den Empfang am Nürnberger Flughafen, den ihm Freunde, Förderer und Weggefährten in der Nacht zum Dienstag bereitet haben. "Mega" sei das gewesen, findet Engel. Wer mit Taliso spricht, sieht, wie mühelos er sich bewegt, der ahnt im ersten Moment nichts von der starken Sehschwäche unter der der Teenager leidet. Auf dem linken Auge liegt sein Sehvermögen bei nur sechs bis acht Prozent, auf dem rechten noch etwas darunter.
Dabei ist "leiden" trotzdem nicht das richtige Wort. Engel kommt sehr gut klar mit seinem Handicap. "Es hat sogar viele Vorteile. Ich kann zum Beispiel mit meinem Behindertenausweis kostenlos mit dem Nahverkehr fahren", sagt er mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. Nur, dass er immer auf jemanden angewiesen ist, der ihn zum Training bringt, nervt ihn. Autofahren wird er nie dürfen und mit dem Fahrrad ist es so eine Sache. "Er hat ein Tandem, er müsste sich nur mal einen Fahrer suchen", sagt Mutter Cosima. Sie will nicht, dass ihr Sohn alleine Fahrrad fährt. Soll aber trotzdem schon vorgekommen sein, wie Taliso durchblicken lässt.
"Ich habe immer geträumt, dass er ertrinkt"
Satte neun Trainingseinheiten absolviert er jede Woche. Schwimmen, Athletik, Kraft – der Spitzensport verzeiht keine Nachlässigkeit. Nach der Schule geht es direkt zum Training, die Hausaufgaben erledigt er abends. Freunde und Hobbys? "Höchstens mal am Wochenende, sonst eher schwierig." Vergangenes Frühjahr hat er seinen Realschulabschluss gemacht, jetzt besucht er die Leistungssportklasse der Lothar von Faber Fachoberschule. "Ich habe eine Kamera auf einem kleinen Stativ. Die ist an einen Laptop angeschlossen, da kann ich mir dann das Tafelbild ranzoomen, so groß wie ich es brauche", erklärt Engel.
Erstmals sitzt nun auch keine Schulbegleiterin mehr neben ihm im Unterricht, die ihn unterstützt. Will er nicht mehr. Er will selbstständig sein. Mit fünf Jahren hat Engel schwimmen gelernt – und seiner Mutter damit eine große Sorge genommen. "Ich habe immer geträumt, dass er ertrinkt", erzählt sie. Anfangs ist er nur bei den regulären Wettkämpfen des Deutschen Schwimmverbands (DSV) gestartet. Bis Michael Heuer von der Sehbehindertenschule in Langwasser Engel zu Meisterschaften des Deutschen Behindertensportverbandes mitgenommen hat.
Nur die Wand macht Probleme
Inzwischen fährt er zweigleisig, startet im Behindertenbereich für Bayer Leverkusen, ansonsten für die Schwimmabteilung des 1. FC Nürnberg. Bei den Nichtbehinderten ist Engel der Sechstschnellste seines Jahrgangs in Deutschland. In seiner Mannschaft beim 1. FCN ist er hervorragend integriert. Auf Wettkämpfen trifft seine Mutter trotzdem immer mal wieder Menschen, die den Behindertensport nicht so richtig ernst nehmen wollen. Trotz der Topleistungen von Athleten wie Engel.
Mit Trainer Jürgen Stettina ist er täglich im Langwasserbad anzutreffen. Beim schwimmen orientiert er sich an der schwarzen Markierung am Beckenboden. Das klappt gut. "Das Schwierige ist nur, den Abstand zur Wand einzuschätzen, wie viele Züge ich jetzt noch machen muss. Ich sehe die Wand eben erst sehr spät." Unterstützt wird Engel vom Goldenen Ring, einem Verein, der Olympia-Kandidaten aus der Region fördert. "Ich bekomme da 200 Euro im Monat und ich nutze das für Eigenanteil am Trainingslager, Ausrüstung, Zugfahrten", sagt der Schwimmer.
Ab 25. August 2020 finden in Tokio die Paralympischen Spiele statt, Engels großes Ziel. Noch sind die Nominierungen dafür nicht offiziell, doch Bundestrainerin Ute Schinkitz wird kaum auf den Weltmeister verzichten wollen. Vielleicht gibt es im Spätsommer 2020 dann wieder einen ganz besonderen Tag für Engel.
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