Paralympische Spiele
Weltrekord! Nürnberger Taliso Engel holt Gold in Tokio
1.9.2021, 15:31 UhrNach einer Minute, zwei Sekunden und 97 Hundertsteln fiel der Druck ab. Im Tokyo Aquatics Centre, wo Taliso Engel die 100 Meter Brust in Weltrekordzeit schwamm und danach die Arme in die Luft schmiss, aber auch zuhause in Nürnberg, wo sich Familie und Freunde verabredet hatten, um den bis dato bedeutungsvollsten Wettkampf in der Karriere des 19-Jährigen zu verfolgen.
"Die ganze Bude hat gebrüllt", erzählt Cosima Engel, Talisos Mutter, die ihn normalerweise überall hin begleitet. Nach Tokio durften keine Familienangehörigen mitkommen, die Corona-Bestimmungen sind streng. Also unterstützten sie ihn eben aus rund 9280 Kilometern Entfernung. "Wir haben beide geweint", sagt Thomas Egelseer, der Vater, über den Moment, als feststand, dass Taliso nun nicht nur amtierender Welt- und Europameister auf seiner Paradestrecke ist, sondern eben auch ein paralympischer Champion. "Das ist das Höchste", sagte Egelseer, einen größeren Wettkampf gibt es nicht.
Die Art und Weise wie Taliso, ein Teenager, der erst vor kurzem sein Fachabi erfolgreich bestanden hat, in Tokio triumphierte, lässt seine Eltern fast sprachlos zurück. "Er hat eine wahnsinnige Nervenstärke", erzählt die Mutter, "von mir hat er die sicher nicht. Er ist unheimlich fokussiert." Eine "gewisse Coolness" schreibt auch sein Vater Taliso zu. "Er ist einfach ruhig, das habe ich bisher bei keinem anderen Menschen unter Leistungsdruck so gesehen."
Druck hatte Taliso Engel mehr als genug, auch wenn er vorab betont hatte, sich davon nicht beeindrucken zu lassen. "Es war schon ein anderes Gefühl als bei der WM, auf jeden Fall", sagte der 19-Jährige nach seinem Lauf in ein ZDF-Mikrofon. Diesmal war er der Gejagte, auf den das ganze Feld und auch die Medien blickten. "Es war ne Menge mehr Druck da, da musste ich versuchen dagegenzuhalten. Das hat gut geklappt." Und wie. Zweimal an einem Tag hat Taliso Engel seinen eigenen Weltrekord geknackt. Ein Satz, der alleine schon ausreichen sollte, um die Sphären, das Potenzial des jungen Nürnbergers zu beschreiben. Im Endlauf war Engel noch einmal über eine halbe Sekunde schneller als im Vorlauf, in dem er auch schon eine neue Bestmarke erschwommen hatte. Knapp eineinhalb Sekunden Vorsprung hatte der Nürnberger auf den US-Amerikaner David Henry Abrahams auf dem zweiten Platz, Dritter wurde Nurdaulet Schumagali aus Kasachstan.
Viel hatte Engel in den letzten Monaten auf diesen Tag ausgerichtet, vor dem Frühtraining sogar noch meditiert, dazu kam die Doppelbelastung mit der Schule. Als die Prüfungen bestanden waren, ging es ins Trainingslager in die Türkei, wo nochmal "richtig harte Sachen", anstanden. Also Belastungsspitzen und hohe Trainingsumfänge.
Belohnt wurde er nun mit dem maximalen Erfolg. "Es war ein besonderer Moment, auf dem Podest zu stehen und die deutsche Hymne zu hören. Ich habe jeden Moment genossen", sagt Engel. "Echt krass, ich hatte Gänsehaut."
An paralympische Ehren hatte Cosima Engel damals nicht gedacht, als sie Taliso erstmals mit zum Schwimmen nahm. Eigentlich war es vielmehr eine Wassergewöhnung. "Er hat schon früh begonnen, mit seinem älteren Bruder" erzählt sie. Ihr war und ist es wichtig, dass ihre Kinder nicht Gefahr laufen, zu ertrinken, darum brachte sie sie früh in Kontakt mit Wasser. "Wir wussten damals noch gar nicht, dass er behindert ist." Taliso, der eine angeborene Sehbehinderung hat, entwickelte ein Talent für das Schwimmen, war jedoch lange Zeit immer der Kleinste. "Mit 15, 16 Jahren kam dann der Schub", erzählt Cosima. Und der Erfolg.
Den möchten Freunde und Familie am liebsten nicht mit 9280 Kilometern Entfernung zu Taliso feiern, sondern - natürlich - gemeinsam. Am Freitag landet der Nürnberger in Frankfurt, wie sie ihn dann abholen, müssen sie noch sehen, denn: Die Bahn streikt. Eine Hürde, die überwindbar scheint. Für einen paralympischen Goldmedaillengewinner sowieso.
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