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Das Matriarchat der Ostsee-Insel

23.02.2025, 07:02 Uhr
Mare versucht, die lokalen Traditionen zu bewahren.

© Julia Finkernagel/MDR/dpa Mare versucht, die lokalen Traditionen zu bewahren.

Das hier ist ein ungewöhnlicher Ort mitten in Europa. Gestreifte Wollröcke, deren Farben den Seelenzustand ihrer Trägerinnen ausdrücken. Knatternde Motorräder mit Beiwagen, die von wirtschaftlichem Aufbauwillen künden. Tänze und Gesänge, die seit Jahrhunderten schon die Kinder vermittelt bekommen. Solche Eigenheiten – samt einem speziellen Dialekt - prägen das Leben auf der kleinen Ostseeinsel Kihnu vor der Küste Estlands. 

Hier scheint die Zeit manchmal stehengeblieben. Viele der Traditionen wurden von der Unesco vor rund 20 Jahren zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt. Dabei sind es vor allem die Frauen, die – in Abwesenheit ihrer als Seeleute, Fischer oder sogar Robbenfänger tätigen Ehemänner – für das Fortbestehen eines überlieferten Zusammenlebens sorgen. Die Doku "Ein Jahr auf Kihnu in Estland" führt in diese Welt ein. Sie läuft am 23. Februar um 19.30 Uhr auf Arte.

Balanceakt zwischen Tradition und Tourismus

Die Autorin und Regisseurin Julia Finkernagel ("Ostwärts – Eine Reise durch das Baltikum") hat bereits im Jahr 2017 die Matriarchinnen zwölf Monate lang bei den oft rauen Wetterbedingungen begleitet. Sie zeigt in ihrem Film Frauen zwischen 9 und 90, die um den Erhalt des geliebten Erbes in einer immer moderneren Welt kämpfen. 

Im Mittelpunkt steht Mare, Mutter von vier Kindern und Ehefrau von Olavi, der auf einem Frachtschiff arbeitet. Neben der Vermietung einiger Gästezimmer engagiert sich die Bäuerin im Auftrag der Unesco für den Balanceakt zwischen Tradition und gleichzeitiger Öffnung für den Tourismus. Dabei blieben die Bewohner am liebsten unter sich. Sie sind zwar gastfreundlich, aber Fremden gegenüber vorsichtig, heißt es in der Doku. "Die Kihnuer Kultur ist mein ganzes Leben. Sie ist meine Mission", sagt die Frau in den Vierzigern. 

Auch Mares drei Töchter und ihr Sohn wirken angetan von ihrer einfachen, aber identitätsstiftenden Herkunft. Doch was wird sein, wenn der Nachwuchs sich nicht mehr für das schlichte Leben auf dem unter Einwohnerschwund leidenden Kihnu entscheidet, sondern für einen lukrativeren Beruf auf dem Festland oder sogar im Ausland? Oder wenn zu viele Feriengäste die Gemeinschaft, die mit ihnen einmal im Jahr ein großes musikalisches Meeresfest feiert, zu stark verwässern? Noch aber ist es nicht so weit. Und so lernt man etwa die landesweit berühmte Liedermacherin Virve kennen, die für ihre Werke in der Kihnu-Sprache noch mit 80 ihre erste Goldene Schallplatte erhalten hat.

Ein eigener Rock für die eigene Beerdigung

Man erlebt auch die 80-jährige Ella, die auf einem Webstuhl aus der Zarenzeit rund um das Jahr Stoffe im Insel-typischen Design herstellt. Und was hat es nun mit den Röcken auf sich, zu denen es passende Schürzen, Oberteile und Kopftücher gibt? Meist sind sie in Rottönen gehalten, denn das gilt auf Kihnu als Farbe der Freude und der Zufriedenheit. Fühlt sich eine Trägerin dagegen eher melancholisch, greift zu blau-Gestreiftem in mehreren Nuancen. Die Traditionalistin Mare besitzt mehr als 30 solcher Röcke, die wegen ihrer Qualität Jahrzehnte halten und sogar vererbt werden. Ein Rock wird aber im Leben nie getragen – sondern für die eigene Aufbahrung und Bestattung beiseitegelegt. 

Und die Motorräder, mit denen Mare ihre Feriengäste auf deren ausdrücklichen Wunsch von der Fähre abholt? Die praktischen Transportmittel waren in den 1990ern auf Kihnu beliebt, als die Einheimischen sich noch kein Auto leisten konnten. Heute gelten unter sie unter Touris als ein Markenzeichen der Insel.