Von sich selbst und den Mitbürgern Zivilcourage erwartet
10.11.2015, 16:01 UhrJehoshua Chmiel lebt mit seiner Familie in München. Er ist ehemaliger Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Chmiel wurde 1955 in Jaffa geboren. Die Mutter stammte aus Königsberg, der Vater aus Polen. Die Eltern beschlossen 1956, nach Deutschland zurückzukehren. Jehoshua wuchs also in Deutschland auf, wenngleich er damals allein einen israelitischen Pass hatte, es gab keine doppelte Staatsangehörigkeit. Er machte das Abitur, studierte, leistete in Israel seinen Wehrdienst ab, lernte dort seine spätere Ehefrau kennen. Er war stolz auf den noch jungen Staat der Juden, der nicht zuletzt durch seine Wehrhaftigkeit imponierte. Dennoch empfand er Israel nicht als seine Natur, er war nun einmal ein Deutscher und wollte es bleiben.
Doch das hatte seine Grenzen, wie er erstmals im Alter von fünf Jahren in seinem Kindergarten in Schwabing erfahren musste. Er wurde als Jude ausgegrenzt. Sein Freund, ein Ägypter, riet ihm dazu, das nicht einfach hinzunehmen. Jehoshua setzte sich durch und benutzte dazu eine Milchflasche als Wurfgeschoss — es war das erste Mal, das er Paroli bot und dem Antisemitismus seinen Willen und seinen Mut entgegensetzte. Noch heute folgt er dem Prinzip, Zivilcourage zu zeigen, und erwartet das auch von anderen.
Ein weiteres Credo lautet, zuerst den anderen Menschen zu sehen, die Gemeinsamkeiten, nicht die Unterschiede in den Vordergrund zu stellen, ihm Respekt zu zollen, den Diskurs zu pflegen. In vielen Gesprächen wurde und wird Chmiel aber belehrt, dass seine deutschen Mitbürger angesichts seines Namens und seiner Religion eben immer wieder die Unterschiede zu ihm hervorheben. So ergeht es wohl vielen der mittlerweile wieder 130 000 Juden in Deutschland, und nicht nur ihnen. In Gunzenhausen stellte er schlicht und einfach fest, dass er Deutscher ist und es als sein Land, seine Heimat betrachtet — so wie auch seine fünf Kinder. Und doch schwingt mit, dass sie sich des Öfteren als eine Minderheit wiederfinden, was sie eigentlich gar nicht wollen.
Der Vater von Jehoshua Chmiel war im Übrigen nach Palästina gegangen, bevor in Europa der Schrecken aufzog. Er wurde englischer Soldat, machte so den Zweiten Weltkrieg mit. Sohn Jehoshua erfuhr von den Eltern nicht viel über die Zeit der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung.
Den 9. November versteht Jehoshua Chmiel vor allem als Verpflichtung, nach vorne zu schauen, das einzufordern, was an diesem Tag gesagt wird, zur Tat zu schreiten. Dieser Tag sei eben wie kein anderer mit Licht und Schatten behaftet. Vor 77 Jahren habe jeder sehen können, was geschah, doch die Deutschen hätten in der übergroßen Mehrheit weggeschaut, statt dem Regime zu zeigen, dass sie nicht mit allem einverstanden waren. Heute gelte es, „Einfluss zu nehmen auf das, was kommt“, und das müssten gerade die Älteren leisten.
Schweigen in der Familie
Eva Haller ist ebenfalls jüdischen Glaubens und lebt in München. Sie kam 1948 in Rumänien zur Welt, wuchs in Wien auf, ging dort in eine Klosterschule, wo sie sich geborgen fühlte, lebte später in vielen Städten und Ländern. Sie empfindet es als dankbar anzunehmendes Schicksal, dass sie heute in München zu Hause ist, der Stadt, „wo alles begann“ — gemeint ist der Aufstieg Adolf Hitlers.
Ähnlich wie bei Jehoshua Chmiel wurde in der Familie Haller wenig bis gar nicht über die Schreckensjahre bis 1945 geredet, die Tochter musste sich viel durch Lesen aneignen. Kein Wunder, dass es zu Spannungen kam. Die pubertierende Eva konnte nicht verstehen, warum sich die europäischen Juden „abschlachten“ ließen. Die Mutter, die Auschwitz überlebt hatte, antwortete, das könne die Tochter gar nicht verstehen. Sie solle aber auf dem weiteren Lebensweg unbedingt den großen, mit Hass gepackten Rucksack ablegen.
Heute leitete Eva Haller an der Isar die Europäische Janusz Korczak Akademie. Diese leistet Bildungs- und Medienarbeit, fördert interreligiöse und -kulturelle Zusammenarbeit. Der Namensgeber Janusz Korczak war polnisch-jüdischer Arzt in Warschau, leitete dort zwei Waisenhäuser und wurde 1942 zusammen mit seinen jüdischen Schützlingen in Treblinka ermordet. Korczak formulierte eine Pädagogik der Achtung. Darauf aufbauend hält Eva Haller an der Überzeugung fest, dass jeder etwas zum Besseren verändern, zur „Reparatur der Welt“ beitragen kann. Die Referentin ging auch kurz auf die Bedeutung des jüdischen Lebens in Bayern ein, streifte das Landjudentum in Mittelfranken und skizzierte die Entwicklung im 19. Jahrhundert. 1871 erfolgte die rechtliche Gleichstellung der Juden. Ab 1933 wurden ihre Gemeindestrukturen völlig zerstört. Nach 1945 bildeten sich wieder winzige Gemeinden, die erst ab 1990 nach dem Zerfall der Sowjetunion zahlenmäßig gestärkt wurden.
Unrühmliche Rolle
Bürgermeister Karl-Heinz Fitz stellte in seiner Rede fest, Gunzenhausen habe alles andere als eine rühmliche Vergangenheit, was die Judenverfolgung betrifft. Die Pogromnacht habe einen Höhepunkt der Verfolgung und Entrechtung der Juden dargestellt. Damals lebten noch 55 Juden in der Stadt. Viele zogen nach dem Schrecken des 9. November weg, suchten die Anonymität der Großstädte. Gunzenhausen war im Januar 1939 im Jargon der Nationalsozialisten „judenrein“. Das langjährige Zusammenleben von Christen und Juden hatte ein gewaltsames Ende genommen. Es habe in jenen Jahren völlig an Toleranz gegenüber Religionen, anderen Volksgruppen, Minderheiten gefehlt. Diejenigen, die am lautesten schrien, hätten die Oberhand behalten und Nacheiferer gefunden, so der Bürgermeister.
Gunzenhausen habe sich gerade in den letzten Jahrzehnten intensiv mit seiner Vergangenheit befasst, die Reichspogromnacht dabei nicht ausgelassen. Fitz: „Wir stellen uns der Vergangenheit.“ Daran nehme die Bevölkerung mehrheitlich teil, gerade junge Menschen. Ausgrenzung und Intoleranz setze man ein entschiedenes Nein entgegen und könne deshalb sagen, dass es hier eben „nicht wieder losgeht“ mit der Ächtung anderer. Fitz sagte dies auch mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik. Ja, die Grenze der Belastbarkeit sei in Deutschland teilweise überschritten. Ja, die Flüchtlinge würden als Fremde wahrgenommen und weckten Ängste, doch müsse man die Herausforderungen sachlich sehen und danach handeln. Man dürfe nicht denen folgen, die solche Ängste für eigene Interessen einsetzen wollten wie etwa Pegida. Die Stadt setze auf Gespräche, wolle den Dialog nicht abreißen lassen. Eine Gedenkveranstaltung wie diese sehe er in diesem Sinn als einen weiteren wichtigen Meilenstein.
Pfarrer Dr. Eberhard Hahn, der Rektor des Diakonissen-Mutterhauses, gestaltete zusammen mit Pfarrer Claus Bergmann und dem katholischen Diakon Manfred Schart eine Andacht und spendete den Teilnehmern den kirchlichen Segen. Die musikalische Umrahmung des Abends übernahmen Schülerinnen von Mädchenrealschule und Fachakademie.
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