Wenn Richter Fehlurteile fällen, bleibt das meist unerkannt
11.12.2018, 20:37 UhrSchon bei Justitia ist die Beurteilungslage höchst unterschiedlich: Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof, schätzte einst, dass jedes vierte Strafurteil ein Fehlurteil sei. Als "Lebenslüge" betrachtet er die Haltung seiner Zunft, dass es "kaum falsche Strafurteile" gebe. Während einige Richter selbstkritisch die Irrtumsanfälligkeit der Rechtsprechung sehen und sich auf Tagungen entsprechend weiterbilden, halten andere das Thema für nicht relevant, sagt Kriminologe Ralf Kölbel. Und selbst die Rechtspolitik, genauer gesagt eine Expertenkommission unter dem damaligen Justizminister Heiko Maas, stellte seinerzeit fest, dass es an validen empirischen Erkenntnissen über Fehlurteile mangele. Das sieht auch Kriminologe Kölbel so.
Er beschreibt ein gewisses Dilemma: Einerseits könne man anhand bestimmter Statistiken Fehlurteile aufspüren, andererseits blieben etliche Fehlurteile im Dunkelfeld unentdeckt. Zu den Statistiken zählen etwa die Wiederaufnahmeverfahren: Ergeben sich nach einer rechtskräftigen Verurteilung neue Beweise, kann ein Prozess wieder aufgerollt und das falsche Ergebnis korrigiert werden.
Zwischen 2003 und 2012 gab es in Bayern etwa drei Dutzend Wiederaufnahmeverfahren pro Jahr, die ihren Ursprung in falschen Landgerichtsurteilen hatten und 230 bis 300 Wiederaufnahmeverfahren pro Jahr, die auf Fehlentscheidungen der Amtsgerichte beruhten.
Auch lassen sich Daten zur Haftentschädigung heranziehen. Wer erwiesenermaßen zu Unrecht hinter Gittern saß, erhält eine finanzielle Kompensation vom Staat. Das waren in den Jahren 2009 bis 2013 gerade einmal 111 Betroffene im Freistaat. Das Problem sind jedoch nicht die entdeckten, sondern die unentdeckten Fehlurteile. Wie kann man sie identifizieren?
Kölbel führt hier die USA ins Feld, die auf dem Forschungsgebiet viel weiter sind als Deutschland. So haben sich in den Vereinigten Staaten Bürgerrechtsorganisationen, wie das "Innocence Project", immer wieder die Strafakten von zum Tode Verurteilten vorgeknöpft und systematisch auf Fehler hin überprüft. Hunderte gerichtliche Entlastungsentscheidungen sind mittlerweile ergangen. Seit 1973 erwiesen sich zahlreiche Todesurteile als falsch. Experten errechneten eine Fehlurteilsrate von 2,3 Prozent bei Todesstrafen-Fällen.
Anhand nachträglich möglicher DNA-Analysen wurden seit 1989 vom Innocence Project allein 363 Fehlurteile in weiteren Verbrechensfällen erkannt. Köbel berichtet ebenfalls von einer Studie, die im US-Bundesstaat Virginia einst für Aufsehen sorgte. Dort wurden zwischen 1973 und 1987 in einem Labor Beweismittel und Spuren archiviert, die im Zuge von Sexualdelikten gesammelt worden waren. Forensische DNA-Neuuntersuchungen ergaben später, dass in 11,6 Prozent der rund 700 ausgewerteten Fälle Fehlurteile ergangen waren.
Wie hoch ist die Dunkelziffer?
Doch auch in den USA kann die Forschung nur punktuell betrieben werden. In 90 Prozent der Strafverfahren, also in Millionen von Fällen, so schätzt Kölbel, gibt es keine Erkenntnisse zu Fehlurteilen. Denn die Mehrheit der Prozesse endet in den USA mit einer Absprache zwischen Angeklagtem und Justiz.
Geständnis gegen Strafrabatt, lautet der Deal. Es besteht also gar kein Interesse, das Ergebnis einer solchen Vereinbarung noch einmal in Frage zu stellen, denn der Angeklagte glaubt ja, günstig davongekommen zu sein. Wertet man wissenschaftliche Zahlen und seriöse Befragungen von Prozessbeteiligten aus, so kommt man auf eine geschätzte Fehlurteilsrate von 0,5 bis fünf Prozent. "Wir können es nicht beantworten und müssen das akzeptieren", sagt Strafrechtler Kölbel und fügt hinzu: "Wir sollten besser herausfinden, was die Ursachen für ein Fehlurteil sind."
Amerikanischen Forschern zufolge ist es wahrscheinlich, dass die Weichen bereits bei den polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen falsch gestellt werden. Auch falsche Geständnisse, polizeiliches Fehlverhalten oder unrichtige Zeugenaussagen können zu Fehlurteilen führen – müssen aber nicht. Mitunter fangen Richter diese Fehler ab und urteilen am Ende trotzdem richtig.
Wie könnte man auch in Deutschland mehr Fehlurteile aufdecken? Bisher sei an juristischen Fakultäten wenig Bereitschaft zu erkennen, solche Forschungsvorhaben anzugehen. Lediglich in Hamburg gebe es eine neuerliche Studie, die 25 Fehlurteile identifizierte, bei denen Richter die psychische Erkrankung von Angeklagten nicht erkannten und damit deren Schuldfähigkeit verkannten.
Abgesehen davon, dass wir laut Kölbel eine "Fehlerkultur" brauchen, was die Unfehlbarkeit der Rechtsprechung betrifft, seien auch hierzulande Fall-Datenbanken notwendig. Der Kriminologe nennt England und Norwegen, wo staatliche "Unschuldskommissionen", also Stellen, die systematisch Urteile überprüfen, Standard sind.
So seien von der "Norwegian Criminal Cases Review Commission" zwischen 2004 und 2010 etwa 1180 Strafakten überprüft worden. Von 120 Wiederaufnahmeverfahren endeten 96 mit Freisprüchen und 17 mit gemilderten Strafen. In England analysierte eine entsprechende Kommission zwischen 1997 und 2017 rund 21800 Fälle und verwies 634 davon zur Überprüfung an die Gerichte zurück, was zu 420 wiedereröffneten Verfahren führte.
Hinter jeder falschen Entscheidung ein Einzelschicksal
Wie wichtig die Fehlurteilsforschung ist, macht Kölbel daran fest, dass hinter jeder falschen Gerichtsentscheidung ein Einzelschicksal stecke: "Viele Menschen fassen nie wieder Fuß, wenn sie nach ein paar Jahren aus der Haft entlassen werden. Sie
tragen dauerhafte Schäden davon." Auch gebe es Ängste in der Bevölkerung vor Fehlurteilen. Daher müsste die Problematik ernst genommen werden – auch um das Vertrauen in die Justiz zu stärken.
Fehlurteile bedeuten freilich nicht automatisch, dass Unschuldige schuldig gesprochen, sondern auch, dass Schuldige freigesprochen werden. Hier galt jedoch unter Juristen und Kriminologen seit jeher die Maxime: Eine falsche Verurteilung ist schlimmer als zehn falsche Freisprüche, so Kölbel.
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