Blinder Alarm in der Sockenfabrik
23.08.2003, 00:00 Uhr
„Ihre Vorschriften und Einrichtungen für Brandfälle sind in Ordnung?“, fragt der Umweltexperte. „Sicher. Sie können es testen“, erwidert die Firmenchefin. „Machen wir sofort.“ Selcuk Kaya (Name geändert) drückt den Knopf für Feueralarm. Ein durchdringender Pfeifton erschallt. Frauen und Männer rennen auf den Hof. Gruppenleiter zählen durch. Der Haupt-Gashahn wird geschlossen.
Nicht einmal zwei Minuten hat die Evakuierung gedauert. Kaya nickt. „In Ordnung“. Der 33-jährige Betriebswirt ist Auditor. Er inspiziert Fabriken auf die Einhaltung von sozialen sowie Sicherheits- und Umwelt-Vorschriften. Jetzt sitzt er in einer Fabrik 60 Kilometer außerhalb von Istanbul. Dort werden Socken produziert. Zwei bis 2,5 Millionen Paar pro Jahr. Von 225 Mitarbeitern an sechs Tagen in der Woche. Für große Markenhersteller wie H & M oder Mothercare. Und für adidas. Das Unternehmen gehört zu den weltweit rund 830 Zulieferern des Sportartikel-Herstellers und Kaya zu einem kleinen Team von adidas, das diese Firmen regelmäßig unter die Lupe nimmt.
Mängelliste abarbeiten
Im Konferenzraum kommt er schnell zur Sache. Arbeitsverträge, Sicherheit, Umwelt — kein Aspekt wird ausgelassen. Kaya legt seinen Bericht vom letzten Audit im August 2002 auf den Tisch. Die Mängelliste ist nur zum Teil abgearbeitet. Das fehlende Treppengeländer ist zwar installiert. Aber die Lagerung der Chemikalien und Farben missfällt Kaya.
Beim Rundgang schaut er in jede Ecke, in Toiletten und Betriebsküche. Im Lagerraum sind Kartons fast bis unter die Decke gestapelt. Mehr als 1,80 Höhe sind nicht erlaubt. „Wenn etwas passiert, kann ein Arbeiter erschlagen werden“, kritisiert Selcuk Kaya. Im Wasch-, Färbe- und Trockenbereich tropft Wasser auf eine Stromleitung. Etliche Türen öffnen sich nur nach innen. Die Anschläge müssen verändert werden, so dass sie sich nach außen öffnen.
Auch der Blick der Beschäftigten ist wichtig. Kaya wählt eigenständig neun Mitarbeiter aus, ohne Wissen des Managements. Er lässt sich die Personalmappen kommen. Sind die Arbeitszeiten richtig notiert? 45 Stunden dürfen es maximal pro Woche sein. Alles stimmt. Auch die Gehaltszettel sind in Ordnung. Mehr als den Mindestlohn von umgerechnet etwa 140 Euro vermerken sie meist nicht. „Für die Gegend ist das okay, zumal die meisten in großen Familien leben“, sagt Kaya später. Beschäftigte unter 15 Jahre? Fehlanzeige, keine Kinderarbeit. Kaya hört kaum Klagen.
Auditoren spielen mittlerweile eine wichtige Rolle. „Immer noch“ werden Sportartikler mit Vorwürfen überzogen, schüttelt Evelyn Ulrich den Kopf, bei adidas zuständig für Sozial- und Umweltfragen. Kaya fühlt sich durch solche Anwürfe fast gekränkt. „adidas tut immer mehr, auch wenn wir nicht alle Defizite hundertprozentig abstellen können. Auch in einer deutschen Fabrik würde ich Mängel entdecken.“
Gleichwohl: Ohne Druck von außen hätte sich wenig bewegt. Viele NGOs haben sich des Themas angenommen, aber auch die für Entwicklungshilfe zuständige Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Deren Experte Peter Kocks hat Firmen und NGOs zusammengebracht, um Standards zu formulieren und die Bedingungen vor Ort zu überprüfen. „adidas tut mittlerweile viel“, sagt er. Das war lange nicht so. Erst Anfang 1999 wurde ein Direktor für Sozial- und Umweltfragen“ eingestellt.
Seitdem gelten bei adidas die „Standards of Engagement“ (SOE): Keine Zwangs- und Kinderarbeit, gesetzlicher Mindestlohn, nicht mehr als 60 Stunden Arbeit pro Woche, Arbeitnehmervertretung, Gesundheit, Sicherheit und Umweltschutz. 1148 Mal haben adidas-Experten letztes Jahr Fabriken geprüft. Auch unabhängige Prüfer schauen sich um, 42 Mal im Jahr 2002. Unangekündigt.
„Weniger Überwachung“
Dass adidas 2002 nur 14 Zulieferer aussortiert hat, spricht nicht gegen die Strategie. „Langfristig wollen wir den Firmen ein eigenständiges sozial- und umweltverträgliches Handeln ermöglichen“, sagt Evelyn Ulrich. Ebenso wichtig wie Audits seien Schulungen. „Weniger Überwachung, mehr Unterstützung“, lautet das Prinzip. Was die Chefin der Sockenfabrik schätzt. Kaya sei Kontrolleur, aber auch Berater. „Wir lernen voneinander.“ Nach siebeneinhalb Stunden Audit nennt der Betriebswirt die Mängel. In vier Wochen müssen sie abgestellt sein.