Corona und Homeoffice: "Lasst uns die Konsequenzen ziehen"

21.7.2020, 10:30 Uhr
Corona und Homeoffice:

© Foto: Jens Schulze/epd

Frau Benner, wie hat sich die Arbeitswelt durch Corona aus Sicht der IG Metall verändert?

Christiane Benner: Die Coronakrise hat sich als Turbo für die Digitalisierung erwiesen. Ich würde sagen: Das war ein spontaner, globaler, digitaler Feldversuch. Wir haben gelernt, dass auf einmal ganz viel geht, was vorher unmöglich schien. Das hat dazu geführt, dass es plötzlich Vertrauen statt Kontrolle gab – aus Mangel an Alternativen. Deshalb ist unsere Quintessenz: Es geht doch. Lasst uns also die positiven Konsequenzen daraus ziehen.

Was sind die positiven Konsequenzen?

Benner: Dass sichtbar geworden ist, dass Beschäftigte auch effizient arbeiten – unabhängig davon, ob sie jeden Morgen ins Büro fahren. Dass die technischen Voraussetzungen für mobile Arbeit in vielen Fällen bereits gegeben sind. Und dass mobile Arbeit vielen Beschäftigten eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht hat – sofern der Staat die Betreuung der Kinder gewährleistet. Auch dass die Anreise ins Büro oder Dienstreisen gespart wurden, hat sich vielfach als ebenso nerv- wie klimaschonend erwiesen.

Corona und Homeoffice:

© Foto: IG Metall

Wie kann denn die Ausgestaltung der neuen Arbeitswelt nach Corona aussehen?

Benner: Was wir brauchen sind funktionierende Strukturen. Wer beispielsweise vorher im Team gearbeitet hat und dort ein gutes Miteinander hatte, kann physische Abwesenheit auch mal überbrücken. Allerdings sehnen sich Menschen nach einem sozialen Miteinander. Und gerade kreative Arbeit ist im Miteinander fruchtbarer. Daher braucht es eine gute Mischung. Ein Anrecht auf beides möchte ich absichern. Das permanent Virtuelle ist auf Dauer sehr anstrengend. Es ist auch wichtig, Menschen im realen Leben in die Augen zu schauen.

Welche Voraussetzungen müssen denn seitens der Arbeitgeber noch im Homeoffice geschaffen werden?

Benner: Allem voran braucht es eine Unternehmenskultur, die auf Vertrauen basiert. Es braucht Führungskräfte, die Mitarbeitern ihre Souveränität lassen. Aber es braucht auch Verbindlichkeit und feste Regeln – zum Beispiel in Tarifverträgen.


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Aber man kann ja mehr Vertrauen durch Vorgesetzte nicht verordnen. Das ist auch eine Typfrage.

Benner: Moderne Führungskräfte sollten das eigentlich gelernt haben, Mitarbeiter über Motivation und Ergebnisse zu lenken, verbindliche Absprachen zu treffen, Feedback zu geben. Nur weil ein Mitarbeiter im Büro sitzt, weiß der Chef ja auch nicht immer im Detail, was dieser gerade macht. Es ist eine Illusion zu denken, nur weil jemand präsent ist, lässt er sich auch kontrollieren. Aber die Versuchung ist groß. Mittlerweile gibt es etwa in den USA Software-Anbieter, die Programme entwickeln, mit denen sich Beschäftigte bei der Arbeit überwachen lassen, auch im Homeoffice. In deutschen Unternehmen ist dies dank unserer Mitbestimmung und der europäischen Datenschutzgrundverordnung nicht zulässig. Da bekäme der Arbeitgeber ein richtiges Problem.

So schön mobiles Arbeiten ist – man darf ja auch die Macht des Flurfunkes nicht unterschätzen, auch für die Bindung zum Unternehmen . . .

Benner: Das geht noch darüber hinaus. Es stellt sich auch die Frage: Wer macht denn dann Karriere? Wer bekommt Zugang zu Qualifizierung? Auch dafür braucht man Rahmenbedingungen, um niemanden zu vergessen oder zurückzulassen. Wir müssen lernen, mit diesen flexiblen Modellen zu leben und sie auch mitzubestimmen. Das ist eine wichtige Aufgabe für die Betriebsräte, die Beschäftigten zu beteiligen und gegebenenfalls vereinbarte Regelungen weiterzuentwickeln – also agile Mitbestimmung. Gute Arbeitsbedingungen sind die Voraussetzung, gut und wirtschaftlich arbeiten zu können.

Was ist mit den technischen Rahmenbedingungen?

Benner: Hier haben wir weitere Grenzerfahrungen gemacht. Wenn jemand acht Stunden am Tablet oder Notebook sitzt, kann es zu Verspannungen oder Kopfschmerzen führen, wenn man unergonomisch sitzt. Unter den Bedingungen der Krise ist viel hingenommen worden, um Abstand und Kontaktverbote einzuhalten. Wenn aber mobiles Arbeiten eine dominierende Arbeitsform wird, müssen auch im Homeoffice die gesetzlichen Vorgaben der Arbeitsstättenverordnung erfüllt sein. Die Größe des Bildschirms muss stimmen, die Höhe des Schreibtischs und eine externe Tastatur wird nötig. Das muss vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt werden. Der Küchentisch ist jedenfalls keine Lösung.

Werden die Arbeitgeber bereit sein, neben dem Büro auch noch ins Homeoffice zu investieren?

Benner: In immer mehr Firmen teilen sich Menschen einen Arbeitsplatz. Damit braucht man in Innenstädten wie München oder Nürnberg weniger Bürofläche, weniger Parkplätze, überhaupt weniger Infrastruktur. Das spart viel Geld. Warum also sollte der Arbeitgeber dann nicht dafür sorgen, dass der Beschäftigte auch zu Hause gute Arbeitsbedingungen erhält?


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Sind spezielle Schulungen nötig für mobiles Arbeiten — auf beiden Seiten?

Benner: Ja, das ist nötig. Für die Beschäftigten geht es dabei neben Themen wie Ergonomie um Selbst- und Zeitmanagement, also Mitarbeiter auch vor Entgrenzung zu schützen. Selbstmanagement müssen aber auch die Führungskräfte beherrschen. Und auch die Fähigkeit zu integrieren. Jetzt arbeiten virtuell Menschen zusammen, die sich noch nie zuvor persönlich gesehen haben. Dazu kommt auch das andere Ende der Kette – also Crowdworker und Solo-Selbstständige, die zwar der Firma zuliefern, für die dann aber keiner mehr die Verantwortung übernimmt. Das kann keine Lösung sein – weder für die Betroffenen noch für die Gesellschaft.

Wo sehen Sie denn die Gefahr von Selbstausbeutung?

Benner: Es fühlt sich anders an, wenn man von der Arbeit weggeht und so damit abschließt. Daheim hat man leichter das Gefühl, noch schnell dieses oder jenes tun zu müssen. Mir haben viele Beschäftigte berichtet, dass sie im Homeoffice viel pausenfreier gearbeitet haben. Oder dass nebenher am PC gegessen wurde. Da braucht man schon einen selbstbewussten Beschäftigten-Typ, der sich gut organisieren kann. Es ist also definitiv ein Thema, für das Leitplanken nötig sind, etwa die Erfassung der Arbeitszeit. Auch im Homeoffice gilt das Arbeitszeitgesetz.

Ist mobiles Arbeiten nur ein Thema für Büro-Jobs?

Benner: Durch die Corona-Krise haben wir gemerkt, dass es mehr Arbeitsplätze gibt, bei denen mobil gearbeitet werden kann, als wir dachten. Das darf kein Privileg für Wenige bleiben. So könnte man in der Produktion für mehr Menschen die Möglichkeit schaffen, ortssouveräner zu arbeiten: etwa im Bereich der Maschinensteuerung oder der Fernwartung. Technisch ist das möglich. Schließlich kann man Maschinen mit Hilfe von IT ortsungebunden warten. Warum nicht also auch mit dem Tablet von zu Hause aus steuern? Unser Anliegen ist, dass da der Blick stark geweitet wird. Während des Lockdowns gab es teilweise eine unglückliche Spaltung. In der Produktion hieß es mitunter: Denen im Homeoffice geht es gut und wir holen die Kohlen aus dem Feuer.

Wo sehen Sie im Rahmen von Industrie 4.0 weitere Möglichkeiten?

Benner: Wer am Band steht und Autos montiert, kann natürlich nicht mobil arbeiten. Aber wir sollten aus dem Lockdown lernen und schauen, wo sich Prozesse weiter digitalisieren lassen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die vorausschauende Instandhaltung. Die Digitalisierung kann aber jetzt schon helfen, mit Kalender-Tools Schichtpläne individueller auf die Bedürfnisse Einzelner abzustimmen. Oder in virtuellen Netzwerken Kompetenzen aufzubauen. Die heutige Arbeitswelt verlangt den Menschen viel ab. Da ist es gut, auf diesem Weg etwas an sie zurückzugeben. Die Industrie 4.0 schafft hier unendliche Möglichkeiten.

Könnte man mit solchen Modellen auch dem Fachkräftemangel entgegenwirken?

Benner: Ziel ist natürlich nicht, Arbeitskräfte wegzurationalisieren. Vielmehr geht es darum, Arbeit mit Hilfe der Digitalisierung humaner zu machen. Und eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben hinzubekommen. Damit wird es vielleicht auch wieder für mehr junge Leute vorstellbar, in der Produktion zu arbeiten.

Wird das mit in die nächsten Tarifverhandlungen einfließen?

Benner: Wir entwickeln unsere Forderungen ja immer mit unseren Tarifkommissionen und den Beschäftigten. Die IG Metall hat bereits 2018 einen Tarifvertrag zu mobiler Arbeit abgeschlossen, in dem Eckpunkte geregelt sind. Damit war das schnelle Umschalten auf Homeoffice während der Corona-Pandemie überhaupt erst möglich. Hier kann man durchaus nachjustieren.

Lässt sich das Recht auf mobiles Arbeiten künftig leichter einfordern?

Benner: Ich halte ein Anrecht auf mobiles Arbeiten für angebracht. Warum soll nicht der Arbeitgeber künftig begründen müssen, warum er mobiles Arbeiten ablehnt? Also die Beweislast umkehren. Den Beschäftigten steht aus meiner Sicht neben der Zeitsouveränität auch eine Souveränität über den Arbeitsort zu. Ich glaube, jetzt ist die Zeit reif, das Thema weiterzudrehen.

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