Neue Studie
Stoppt Russland das Gas, sind fast sechs Millionen Arbeitsplätze gefährdet
28.6.2022, 12:59 UhrEs ist das Horrorszenario, das im Moment alle beschäftigt: Was passiert, wenn Russlands Despot Putin den Gashahn zudreht, wie hart wird das Deutschland treffen? Die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw) hat das durchrechnen lassen. Das Ergebnis: Es käme wohl schlimmer, als die bisherigen Annahmen ohnehin schon befürchten lassen.
"Dramatisch unterschätzt"
Das Prognos-Institut hat durchgespielt, was passiert, sollte Putin ab 1. Juli kein Gas mehr liefern. Das Szenario, sagt Michael Böhmer, der die Studie betreut hat, sei der Realität sehr nahe. "Und es zeigt sich, dass die Folgen eines russischen Lieferstopps dramatisch unterschätzt sind." Sie könnten, davon geht Böhmer aus, bis zu 5,6 Millionen Arbeitsplätze betreffen und die Wirtschaftsleistung binnen sechs Monaten um fast 13 Prozent schrumpfen lassen. "Deutschland würde in eine tiefe Rezession gleiten", sagt Böhmer.
Deutschland, und insbesondere Bayern, ist stark von russischem Gas abhängig. Fast 90 Prozent des hierzulande verbrannten Gases muss die Bundesrepublik importieren. Der russische Anteil sinkt zwar seit Monaten, inzwischen liefert Norwegen bereits doppelt so viel Gas wie bisher, auch die Niederlande und Belgien ziehen mit. Flossen im ersten Quartal 2019 rund 158 Terawattstunden russisches Gas nach Deutschland, waren es im ersten Quartal diesen Jahres nur noch 52. "Das ist schon ein Erfolg", sagt Böhmer.
Ein Drittel für die Industrie
Im Jahr verbrauchen die Deutschen und ihre Wirtschaft rund 938 Terawattstunden Gas. Etwas weniger als die Hälfte strömt zu den "geschützten Kunden", in Privathaushalte beispielsweise, in Kliniken oder Pflegeeinrichtungen. Knapp 200 Terawattstunden wandeln Kraftwerke in Strom um. Gut ein Drittel der in Deutschland verbrauchten Gasmenge geht aufs Konto der Industrie.
Böhmer geht davon aus, dass ihr nach einem Lieferstopp nur noch rund die Hälfte des benötigten Gases zur Verfügung stünde. Zwar könnte die Industrie ihre eigenen Kraftwerke notfalls mit anderen Brennstoffen befeuern. Doch die Menge fällt kaum ins Gewicht. Zudem gibt es etliche Produktionszweige, für die Gas unverzichtbar ist, etwa die Chemie-Industrie, Glashütten oder die Stahlindustrie und auch die Lebensmittelproduktion. Am brutalsten trifft laut Prognos ein Lieferstopp die Glasindustrie, der fast die Hälfte ihrer Produktion wegbrechen würde. Stahl, Keramik, Nahrungsmittel, Druck und Chemie liegen nahezu gleichauf mit jeweils etwa einem Drittel Ausfall.
Es trifft alle
Das Prognos-Institut hat nicht nur nachvollzogen, was es für direkt betroffenen Unternehmen bedeutet, sondern auch für alle, die von ihren Produkten abhängig sind. Beispiel Automobilindustrie: Sie braucht den Stahl der Walzwerke ebenso wie den Lack der chemischen Industrie. Ein Teil des Ausfalls könnten die Firmen über Ankäufe im Ausland abfedern, doch eine Lücke bliebe. "Das trifft die Industrie nicht allein, sondern es pflanzt sich natürlich auf fast die gesamte Wirtschaft fort", sagt Michael Böhmer. Am Härtesten träfe es den Dienstleistungssektor als stärksten Bereich in Deutschland.
All das gilt auch dann, wenn es gelingen sollte, dass der Gasverbrauch in Deutschland um rund ein Viertel sinkt, was Böhmer für machbar hält, etwa mit weniger Heizen oder der Stromproduktion aus anderen Energieträgern. Trotzdem würden sich die wirtschaftlichen Verluste aus einem Gasembargo binnen einen halben Jahres auf rund 200 Milliarden Euro summieren. Das liegt auch daran, dass vor allem im Oktober der Druck auf den Gasmarkt groß ist, weil die Heizperiode beginnt und die Gasspeicher noch gefüllt werden.
Absage ans Fracking
Und die Alternativen? Fracking, das einige Politiker jetzt für Deutschland fordern, hält weder Böhmer noch Bertram Brossardt für eine Lösung. Die Gasmengen seien zu gering, die sich aus dem Gestein lösen ließen, sagt der Hauptgeschäftsführer der vbw. Zudem dauere es Jahre, bis die Produktion anlaufen könnte. Es gehe aber um Alternativen für die kommenden Monate und ein bis zwei Jahre. Kohle und Öl könnten in der Stromerzeugung das Gas kurzfristig ersetzen. Auch die drei verbliebenen Atomkraftwerke könnten laut Böhmer "noch einige Monate am Netz bleiben". Sie liefern allerdings nur sechs Prozent der in Deutschland produzierten Strommenge.
Was bleibt, sind die Versäumnisse vor allem in Bayern, die vbw-Geschäftsführer Brossardt beklagt. Wäre die Regierung "in die Gänge gekommen", sagt er, "hätten wir jetzt deutlich mehr Windkraft." Gleiches gelte für den Ausbau der Biomasse oder für die Stromtrassen aus dem Norden. Erst der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck habe Schwung ins Thema gebracht. "Das ist ein politisches Problem", sagt Brossardt mit Blick auf die Staatsregierung, "aber auch ein regionalpolitisches, weil die Widerstände vor Ort sehr stark sind." Das müsse sich ändern, fordert er. "Die Bevölkerung muss die Energiewende endlich mittragen."
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