Corona-Folgen
Wegen Corona: Deutsche sollen mehr arbeiten - bei weniger Urlaub
15.6.2021, 18:42 UhrDeutschland steht im Vergleich mit der Schweiz und Schweden recht komfortabel da, wenn es um die Freizeit der Bürger geht. So liegt die Jahresarbeitszeit der Schweden um 7 Prozent höher und die der Schweizer um 11 Prozent, heißt es in der Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft. Die Verfasser plädieren dafür, sich dem Schweizer Niveau graduell anzunähern und auch die Erwerbstätigenquote um 2,5 Prozentpunkte zu erhöhen. Dies könnte das preisbereinigte deutsche Bruttoinlandsprodukt nach zehn Jahren um bis zu 8 Prozent steigern. Die Schuldenstandsquote, also das Verhältnis zwischen Staatsschulden und Wirtschaftsleistung, könnte dem IW zufolge um mehr als 16 Prozentpunkte sinken.
„Um die Lasten der Corona-Pandemie zu bewältigen, muss das Wachstumspotential des Arbeitsmarktes genutzt werden“, sagt IW-Chef Michael Hüther. Während deutsche Arbeitnehmer im Schnitt rund 34 Stunden pro Woche arbeiten und 31 Urlaubstage im Jahr haben, sind es bei den Schweizern 36 Wochenarbeitsstunden und nur 25 Urlaubstage. Wenn man diese Arbeitszeiten auf das deutsche Arbeitsmarktmodell überträgt, ergibt sich laut IW ein Potenzial von 7,7 Milliarden Stunden.
"Viele Frauen sind unfreiwillig in Teilzeit"
Um die Arbeitszeiten näher an die Schweizer Verhältnisse heranzuführen, schlägt das Institut unter anderem den Abbau unfreiwilliger Teilzeit und eine Angleichung der Wochenarbeitszeit der Frauen an die der Männer vor. „Viele Frauen arbeiten unfreiwillig in Teilzeit, weil Kitaplätze fehlen“, sagt Hüther und verweist darauf, dass allein für die Kinder unter drei Jahren 340 000 Betreuungsplätze fehlen. „Diese Versäumnisse aus den vergangenen Jahrzehnten kommen uns jetzt teuer zu stehen. Um die Krisenfolgen zu bewältigen, müssen wir jetzt alle mit anpacken.“
Rente mit 70 gefordert
Erst vor wenigen Tagen hatte sich das Institut schon einmal für längere Arbeitszeiten ausgesprochen, als eine Erhöhung des Rentenbeginns auf 68 Jahre diskutiert wurde. Das IW meldete sich in der Debatte mit der Forderung nach einer Rente mit 70 zu Wort - diesen Vorschlag hatte es auch schon einige Jahre zuvor gemacht.
Die Pandemie hat dem Institut zufolge eine „goldene Dekade“ am deutschen Arbeitsmarkt jäh beendet: Nach Überwindung der Finanzkrise begann ein langer Beschäftigungsboom mit steigenden Nominallöhne. Dadurch stiegen die Steuer- und Beitragsaufkommen, was entscheidend zur Konsolidierung des Staatshaushalts beitrug. Die Schuldenstandsquote sank von 80 Prozent unter die Maastricht-Grenze von 60 Prozent im Jahr 2019. Dieser Trend wurde 2020 durch die Folgen der Pandemie gestoppt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank um knapp 5 Prozent, das Arbeitsvolumen um 5,7 Prozent und die Zahl der Erwerbstätigen um über 1 Prozent.
Erschwerend hinzu kommt der demografische Wandel: Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes von 2019 dürfte die Zahl der erwerbsfähigen Personen im Alter von 20 bis 64 Jahren von heute knapp 50 Millionen bis zum Jahr 2030 um 4 Millionen schrumpfen. Dieser Faktor führt also zu deutlich sinkender Arbeitsproduktivität in Deutschland und bestätigt das IW in seiner Auffassung, dass der wesentliche Hebel bei der Arbeitszeit liegt.
Wirkung könnte in der Praxis verpuffen
Die Wirkung von erhöhten Arbeitszeiten könnte in der Praxis jedoch verpuffen: Lars Feld, der ehemalige Chef der Wirtschaftsweisen, vermutet, dass mehr Arbeitnehmer auf Teilzeit ausweichen würden - denn die Work-Life-Balance bekommt einen immer höheren Stellenwert.
„Höhere Wochenarbeitszeiten führen nicht automatisch zu höherer Produktivität“, gibt auch der FDP-Fraktionsvize Michael Theurer zu bedenken. Er plädiert für flexiblere Arbeitszeiten und individuelle Vereinbarungen in den Betrieben.