Armut

WSI-Studie: Einkommensungleichheit Gefahr für die Demokratie

2.11.2023, 13:51 Uhr
Insgesamt hat die Einkommensarmut der Studie zufolge von 2021 auf 2022 leicht abgenommen. Seit 2010 sei die Armutsquote im Trend jedoch spürbar gestiegen.

© Friso Gentsch/dpa/Illustration Insgesamt hat die Einkommensarmut der Studie zufolge von 2021 auf 2022 leicht abgenommen. Seit 2010 sei die Armutsquote im Trend jedoch spürbar gestiegen.

Die Einkommensungleichheit in Deutschland trägt nach Einschätzung des Forschungsinstituts WSI zu einer Entfremdung einzelner Gruppen vom demokratischen System bei. "Wenn sich Menschen gesellschaftlich nicht mehr wertgeschätzt fühlen und das Vertrauen in das politische System verlieren, dann leidet darunter auch die Demokratie", schreibt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in seinem neuesten "Verteilungsbericht".

Die WSI-Experten haben in der am Donnerstag vorgestellten Studie untersucht, wie sich die Einkommen in Deutschland verteilen und welche mutmaßlichen Auswirkungen dies hat. Grundlage der Untersuchung sind zwei große, repräsentative Befragungen, die alljährlich vorgenommen werden.

Je nach Einkommen werden die Haushalte eingeteilt. Neben einem großen Bereich mit mittleren Einkommen gibt es arme oder reiche Haushalte. Als arm gilt demnach, wessen Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des Einkommensmittelwerts in Deutschland beträgt. Für einen Singlehaushalt liegt die Grenze nach WSI-Angaben bei maximal 1200 Euro im Monat. Als einkommensreich gilt, wer über mehr als das Doppelte des Mittelwerts verfügt.

Ein Drittel der Armen hat nur geringes Vertrauen in Rechtssystem

Der Studie zufolge ist das Vertrauen in die demokratischen Institutionen stark von der Einkommenshöhe abhängig. So gebe es unter Reichen nur wenige, die der Polizei oder dem Rechtssystem nicht vertrauten. Unter den dauerhaft Armen seien es hingegen mehr als 22 Prozent im Fall der Polizei und mehr als ein Drittel im Fall des Rechtssystems. Ein geringes Vertrauen in den Bundestag gaben weniger als 20 Prozent der Reichen an und 30 Prozent der Menschen mit mittleren Einkommen. Bei den dauerhaft Armen waren es allerdings mehr 47 Prozent. "In anderen Worten: Fast die Hälfte der dauerhaft Armen bringt dem Bundestag nur wenig Vertrauen entgegen", heißt es in der Analyse.

Deutliche Unterschiede stellt die Studie auch beim Vertrauen gegenüber Parteien und Politikern fest: Während gut ein Drittel der Reichen ein geringes Vertrauen in Parteien und Politiker angab, waren es unter den dauerhaft Armen deutlich über die Hälfte aller Personen.

Vertrauen in Institutionen hat sich vermutlich weiter verringert

Die Autoren betonten, die Zahlen bezögen sich auf das Jahr 2021. "Sie fallen mithin in eine Zeit, in der sich die Zufriedenheit mit der Demokratie gerade im Vergleich zu den darauffolgenden Jahren auf einem relativ hohen Niveau befand." Es sei davon auszugehen, dass sich das Vertrauen in Institutionen seitdem eher verringert habe.

Insgesamt hat die Einkommensarmut der Studie zufolge von 2021 auf 2022 leicht abgenommen. So hätten 2022 in Deutschland 16,7 Prozent der Menschen in Armut gelebt, 2021 seien es noch 16,9 Prozent gewesen. Als Grund für den Rückgang vermuten die Autoren die Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung im Krisenjahr 2022.

Seit 2010 sei die Armutsquote im Trend jedoch spürbar gestiegen. Damals habe sie bei 14,5 Prozent gelegen. Im Vor-Corona-Jahr 2019 habe sie 15,9 Prozent betragen. Überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind der Untersuchung zufolge etwa Arbeitslose, Minijobber, Ostdeutsche, Alleinerziehende, Frauen oder Menschen mit Zuwanderungsgeschichte.

WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch nannte den hohen Anteil von armen Menschen in Deutschland "besorgniserregend": "Die wachsende Armut hat das Potenzial, diese Gesellschaft weiter unter Druck zu setzen", sagte sie vor Journalisten.

Einige Arme können sich keine neuen Schuhe leisten

Die Studie nimmt auch die Auswirkungen auf die Lebensumstände in den Blick. So müssen demnach arme Menschen in Deutschland nicht selten auf Güter des alltäglichen Lebens wie neue Kleidung oder Schuhe verzichten und können mitunter nicht angemessen heizen. Der Studie zufolge war 2021 neue Kleidung unerschwinglich für 17 Prozent der Menschen, die dauerhaft, also über fünf oder mehr Jahre, unter der Armutsgrenze lebten. Unter den Menschen, die 2021 arm waren, aber nicht durchgehend in allen vier Jahren davor, konnten sich gut acht Prozent keine neue Kleidung leisten.

Von den dauerhaft Armen sahen sich der Studie zufolge mehr als vier Prozent finanziell nicht in der Lage, die Wohnung angemessen zu heizen. Fünf Prozent gaben an, sich keine neue Schuhe leisten zu können. Die Daten machten anschaulich, dass Armut selbst in einem reichen Land wie der Bundesrepublik nicht selten mit deutlichen alltäglichen Entbehrungen verbunden sei, analysierte das WSI.