Keine Halbtagskraft für Tagesstätte

19. Oktober 1971: Kinder tummeln sich auf gefährlichen Spielplätzen

19.10.2021, 07:38 Uhr
19. Oktober 1971: Kinder tummeln sich auf gefährlichen Spielplätzen

© Volker Ranke

Die für sie eingerichtete Spielstube bleibt leer, die Läden vor den Fenstern sind zugeklappt. Gegen die Stadt richten Siedlungsbewohner deshalb den Vorwurf, sie habe eine mit Privatinitiative geschaffene Einrichtung totlaufen lassen, weil ihr die Sorge um die Kinder "keine paar tausend Mark wert" gewesen sei. Dabei hatte alles mit einer hoffnungsfrohen amtlichen Mitteilung begonnen. "Der Rotary-Club hat im vorigen Jahr mit Unterstützung des Sozialamtes die Spielstube eingerichtet. Studenten der Fachschule für Sozialarbeit leisteten dort in zwei Gruppen tatkräftige Aufbauarbeit."

So meldete es das Amtsblatt der Stadt vom Mai dieses Jahres. Da stand weiter zu lesen: "Dem Jugendwohlfahrtsausschuss erschien diese Arbeit dringend notwendig. Sie soll daher intensiv weiter betrieben werden. Eine Halbtagskraft, die den täglichen Betrieb von 13.30 bis 18 Uhr leitet, soll dafür angestellt werden." So hieß es im Mai. Doch geschehen ist nichts. Die Studenten resignierten und kommen nicht mehr. Auch die Schülerinnen des Sigena-Gymnasiums, die den älteren Schulkindern bei den Hausaufgaben geholfen hatten, bleiben fort. Der Grund: die freiwilligen Helfer sind bitter enttäuscht. Einer von ihnen sagt: Eine Halbtageskraft hätte die Stadt keine 10 000 Mark im Jahr gekostet, aber selbst diesen verhältnismäßig kleinen Betrag hat sie für die (rund 90) Kinder und Jugendlichen der Obdachlosensiedlung nicht übrig."

In der Obdachlosensiedlung wohnen u. a. Familien mit sechs und acht Kindern. Die Spielstube wurde deshalb sehr begrüßt, denn die Eltern wußten ihre Kinder darin gut aufgehoben. Verwalter Andreas Herrmann bastelte Spielzeug und baute eine Schaukel für die Kinder. Die Räume wurden außerdem mit beträchtlichen Privatspenden hergerichtet und getüncht. Doch ohne eine Halbtagskraft zur Aufsicht der Kinder ist, dies alles umsonst. Der Rentner Johann Seubert, der neben der Kindertagesstätte wohnt, versteht die Welt nicht mehr: "Wenn die Kinder jetzt überhaupt keinen Halt mehr haben, dann können sie leicht auf die schiefe Bahn abrutschen. In den beiden kirchlichen Kindergärten bringen wir die Kinder nicht unter. Die Stadt muß deshalb unbedingt etwas tun."

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