Als vier Eisbären in Nürnbergs Tiergarten freigelassen wurden
10.2.2019, 05:17 UhrEs ist 19 Uhr, als Familie Mägdefrau am 29. März 2000 zu Abend isst und das Telefon klingelt. Der Biologe Helmut Mägdefrau hebt den Hörer ab. Sein Chef ist in der Leitung, Peter Mühling, Leiter des Nürnberger Tiergartens. Als der Vize-Direktor auflegt, sieht man ihm an: Es muss was passiert sein. "Die Kinder haben sofort gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist", sagt er heute. Doch was? Ein Eisbär läuft frei in der Tiergartenanlage herum. Ein Vater, der mit seinem Kind noch im Zoo unterwegs war, hatte das Tier gegen 18.45 Uhr gesehen.
Kurz nach dem Telefonat ruft Mühling noch einmal an. Ein zweiter Polarbär ist gesichtet worden. Beim dritten Anruf informiert ihn der Tiergarten-Chef, dass jetzt alle vier arktischen Raubtiere ausgebrochen sind: Yukon, das 3,20 Meter große und 500 Kilo schwere männliche Tier und die drei etwa 2,60 Meter großen und je rund 250 Kilo schweren weiblichen Bären Silke, Nadine und Efgenia. Dramatisch ist auch: Die vier Eisbären sind eine Leihgabe aus dem Zoo in Karlsruhe. Sie wurden ausquartiert, weil das Gehege erneuert wurde. Der Tiergarten Nürnberg bot seinen freien Eisbären-Bereich an.
Einer der Bären erreicht die Zoo-Gaststätte
Am 29. März 2000 beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Mägedefrau macht sich auf den Weg Richtung Tiergarten. 15 Mitarbeiter versuchen, die Situation in den Griff zu bekommen. Mit Narkosegewehren sollen die Pelzriesen ruhiggestellt werden, um sie dann gefahrlos zurück ins Gehege schleppen zu können.
Doch die Suche nach den Tieren ist problematisch, es ist dunkel, Außenbeleuchtung gibt es kaum. Die Mitarbeiter wollen in jedem Fall verhindern, dass die Bären den Zaun des Zoos überwinden und in den Wald oder die angrenzenden Stadtteile entschwinden. Die Pelzriesen sind panisch, voller Adrenalin. Als einer der Bären bis auf acht Meter an einen Tierarzt herankommt, zielt er mit dem Gewehr und drückt ab. Immer wieder. Die meisten Betäubungspfeile treffen zwar, der Bär dreht aber ab, die Wirkung des Mittels bleibt trotz doppelter Dosis aus. Ursache war das Winterfell, die dicke Fettschicht und das Adrenalin, das die Wirkung der Narkose verdrängt, gibt der Tiergarten einen Tag später bekannt.
Einer der Bären erreicht die Zoo-Gaststätte "Waldschänke". Sie grenzt direkt an den Reichswald, nur ein gewöhnlicher Zaun hält das Tier jetzt noch zurück. Direktor Mühling trifft eine Entscheidung: Die Tierärzte müssen scharf mit Gewehren schießen. Gegen 20.30 Uhr alarmiert der Tiergarten die Polizeiinspektion Ost über den Ausbruch der Tiere. Als die Streife eintrifft, ist die Jagd allerdings schon vorüber. Lediglich das Männchen, der Bulle Yukon, liegt noch schwer verletzt im Gehege. Auf Bitten des Tierarztes verpasst einer der Polizisten dem Bären einen tödlichen Fangschuss.
In den folgenden Tagen wird die Zooleitung mit Kritik überschüttet, vor allem von Tierschützern. Wütende Menschen rufen auch bei einer Nürnbergerin an, die zufällig auch den Namen Mägdefrau trägt. "Ich bin mit ihr weder verwandt noch verschwägert. Die Frau musste viel aushalten", sagt Helmut Mägdefrau. "Wir bekamen aber auch viel Zuspruch für unser Handeln, vor allem aus den umliegenden Stadtteilen des Zoos wie Mögeldorf, Zerzabelshof und Laufamholz. Die Tiere hätten dort Schlimmes anrichten können", sagt der Vize-Direktor.
Polizei gründet Soko
Allerdings war das Kapitel um die toten Eisbären noch lange nicht abgeschlossen. Denn noch in der Nacht war klar: Die Polarbären sind nicht aus eigener Kraft ins Freie gelangt, da hatte jemand nachgeholfen, die Schlösser am Eisbären-Gehege wurden geknackt.
Zunächst vermutet man militante Tierschützer hinter dieser Tat, deshalb ermittelt auch erst der Staatsschutz der Nürnberger Kriminalpolizei. Doch diese Vermutung gilt schon bald als unwahrscheinlich. Im Präsidium wird eine zehnköpfige Sonderkommission "Eisbären" gebildet, 150 Hinweise gehen in kürzester Zeit ein. Unterdessen poltert der CSU-Abgeordnete Manfred Hölzl im bayerischen Landtag und empört sich über "unerträgliche bauliche Zustände" im Nürnberger Zoo und die Vorverurteilung von Tierschützern.
Zeugen werden befragt, Spuren gesichert, ein Phantombild wird veröffentlicht. Außerdem werden 20 000 Mark zur Belohnung ausgesetzt für Hinweise, die zur Aufklärung der Tat führen. Dann, drei Wochen nach dem Tod der vier Pelzriesen, nimmt die Polizei einen Tatverdächtigen in seiner Wohnung fest. Er soll die Schlösser am Gehege aufgehebelt haben, so dass die Tiere ins Freie gelangen konnten. Aus Ermittlungsakten geht hervor, dass der 30-Jährige wenige Wochen vor dem Drama im Zoo sich um eine Anstellung als Handwerker im Tiergarten beworben hatte — und abgelehnt wurde. Am 29. März 2000 wollen ihn auch mehrere Zeugen im Zoo gesehen haben. "Etliche Indizien", so der damalige Sprecher der Polizeipressestelle Peter Grösch, hätten für eine Tatbeteiligung des Mannes gesprochen. Doch seien die Ermittlungen aufgrund der psychischen Erkrankung des Verdächtigen schwierig.
Der Mann wird einem Ermittlungsrichter vorgeführt, der ordnete eine vorläufige Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik an. Ein dreiviertel Jahr später kommt dann der Paukenschlag: Wer die Schlösser gesprengt hatte, bleibt weiter (bis heute) offen. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth stellt das Verfahren gegen den Nürnberger Mitte Januar 2001 mangels Beweise ein. Die Indizien reichen nicht für eine "lückenlose Beweiskette", erklärte damals Justizsprecher Bernhard Wankel. Auch wenn die Staatsanwaltschaft dem Mann nachweisen konnte, dass er zum Tatzeitpunkt im Tatbereich war.
Bald nach der Tragödie um die vier Eisbären investierte der Tiergarten in mehr Sicherheit: Schlösser, die man nicht aufhebeln kann, wurden angeschafft, eine Videokamera und eine Gitterwand zum Tiergartenhotel installiert. Im Oktober 2004 erhielt der Tiergarten schließlich wieder eigene Eisbären: Felix, Vera und Wilma. Im Dezember 2007 kam am Schmausenbuck schließlich der Publikumsliebling auf die Welt: Flocke.
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