Jackson-Doku "Leaving Neverland": Opfer oder Lügner?

5.4.2019, 08:48 Uhr
Jackson-Doku

© Foto: Wade Robson

Mit zitternder Hand hält James Safechuck (41) einen Ring in die Kamera. Das Schmuckstück passt nicht über seinen Finger, es ist zu klein. Kein Wunder. Als er ihn von Michael Jackson geschenkt bekam, war er noch ein Kind, so berichtet er. Der Super-Star, der 2009 starb, habe eine Hochzeitszeremonie mit ihm abgehalten und ihm den Ring an den Finger gesteckt. Heimlich, versteht sich.

Die Szene ist nur ein Mini-Ausschnitt aus der 240-minütigen Dokumentation "Leaving Neverland" des britischen Regisseurs Dan Reed, die beim Sundance Film Festival in den USA Premiere hatte und dann vom US-amerikanischen Sender HBO und dem britischen Channel 4, die den Film gemeinsam produziert haben, im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Die Reaktionen waren gespalten: Während die einen Michael Jackson vehement verteidigten und Dan Reed Einseitigkeit vorwarfen, waren die anderen ergriffen von Wade Robsons (36) und James Safechucks Schilderungen — und vollkommen entsetzt.

Perfide Masche, um das Vertrauen zu gewinnen?

Das, was die beiden — weitgehend ruhig und besonnen — erzählen, übersteigt tatsächlich jegliche Vorstellungskraft. Wade Robson war fünf, als er sein großes Idol kennenlernte. Bei einem Tanzwettbewerb hatte er ein Treffen mit dem Musiker gewonnen. James Safechuck wiederum war zehn, als er Jackson beim Dreh eines Werbespots traf. Detailliert schildern beide, untermauert von den Aussagen ihrer Mütter, ihrer heutigen Ehefrauen sowie Robsons Bruder und Schwester, wie sich über Wochen, Monate und Jahre eine Beziehung zu dem "King of Pop" entwickelte. Der habe sowohl die Kinder als auch deren Familien mit Geschenken überhäuft, sie umgarnt, bezirzt, ihnen das Gefühl gegeben, etwas ganz Besonderes zu sein.

Wie eine Spinne, so entsteht der Eindruck, hat Michael Jackson sein Netz um die Familien gesponnen. Er sei so einsam, habe er geklagt, er habe keine Freunde. Er gibt sich wie ein kleiner Junge, die Mütter schließen ihn ins Herz wie einen eigenen Sohn. Alles nur eine perfide Masche, um das Vertrauen der Safechucks und der Robsons zu gewinnen und im Windschatten von deren Bewunderung und Naivität die beiden kleinen Jungs zu missbrauchen?

"Ich war Hals über Kopf in ihn verliebt"

Fest steht: Wir werden es nie endgültig wissen, und das ist wahrscheinlich das Quälendste an dieser Dokumentation. Denn nach vier aufrüttelnden, keineswegs reißerischen Stunden will man diesen Männern einfach glauben. Zu schlüssig sind ihre Erzählungen, zu authentisch ihre Mienen. Zu nachvollziehbar ist auch die psychologische Komponente der Geschichte: Der Täter baut eine unfassbar intensive Beziehung zu seinen Opfern auf, macht sie emotional so abhängig von sich, dass sie — obwohl sie längst sexuell von ihm missbraucht werden — immer noch voller Liebe aufschauen zu ihrem Idol, sogar freiwillig mit ihm in einem Bett schlafen. "Ich war Hals über Kopf in ihn verliebt", sagt Wade Robson an einer Stelle. "Es war wie in den ersten Wochen einer Beziehung, man hat immer und überall Sex", erinnert sich James Safechuck. Erst ganz zum Schluss nimmt er das Wort Missbrauch überhaupt in den Mund.

Sie seien nicht gezwungen worden, erzählen sie. Körperliche Gewalt sei nie im Spiel gewesen. Man zeige sich so seine Liebe und Freundschaft, habe Michael Jackson behauptet und ihnen gleichzeitig eingebläut, dass sie niemals jemandem etwas sagen dürfen. Robson machte er weis, dass sonst sowohl er, der kleine Junge, als auch Jackson selbst lebenslang im Gefängnis landen würden.

Und trotzdem bleibt natürlich ein großes "Aber". Dan Reed, übrigens ein äußerst renommierter und mit Preisen ausgezeichneter Dokumentarfilmer, musste sich seit der Premiere des Films viel Kritik gefallen lassen. Die Machart von "Leaving Neverland" ist tatsächlich zumindest fragwürdig. Der Film besteht nur aus Interviews, Archivaufnahmen, vielen Luftbildern — weder der Fragesteller tritt in Erscheinung noch kommt die Gegenseite zu Wort. Was, zugegeben, auch schwierig ist, denn Michael Jackson ist tot und, so Dan Reed, dessen Kinder und Familie waren beim Missbrauch ja nicht dabei.

Allerdings montiert der Regisseur mehrere "Verteidigungsreden" des Künstlers in den Film, die im Zuge der beiden Prozesse wegen Kindesmissbrauchs gegen ihn in den Jahren 1993 und 2005 entstanden. Jackson wurde jeweils freigesprochen. Auch — und das macht die beiden für viele unglaubwürdig — aufgrund der Aussagen von Robson und Safechuck, die beteuerten, niemals von ihm unsittlich angefasst worden zu sein. Wie das sein kann und wie das System aus Nähe und subtilen Drohungen funktionierte, wie die Scham und auch die Unfähigkeit, den Missbrauch als solchen zu erkennen, ihr Übriges taten — auch das dröselt die Dokumentation in schauderlicher Akribie auf.

Honorar, das sei noch angemerkt, haben die Familien laut Reed übrigens nicht bekommen für ihre Mitwirkung an dem Film. Allerdings hatten beide nach dem Tod des Musikers seine Nachlassverwalter erfolglos auf Schmerzensgeld verklagt — für viele ein weiterer Beweis, dass es ihnen nur ums Geld geht. Als Zuschauer bleibt man zerrissen zurück. Wer ist man, einfach zu behaupten, Wade Robson und James Safechuck seien hinterhältige Lügner? Und wie kann man gleichzeitig der Unschuldsvermutung für mutmaßliche Täter gerecht werden? Wie gesagt: Die Wahrheit werden wir wohl nie endgültig wissen.

Samstag, 6. April, ProSieben: Ab 19.05 Uhr läuft ein Spezial, das sich kritisch mit der Doku (20.15 Uhr) auseinandersetzt.


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