BDI-Chef Kempf zur GroKo: "Der große Wurf fehlt"

14.2.2018, 19:36 Uhr
Trotz der guten wirtschaftlichen Lage in Deutschland fordert Kempf Entlastungen in der Steuerpolitik und Verbesserungen bei der Digitalisierung.

© Roland Fengler Trotz der guten wirtschaftlichen Lage in Deutschland fordert Kempf Entlastungen in der Steuerpolitik und Verbesserungen bei der Digitalisierung.

Herr Professor Kempf, CDU, CSU und SPD haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Sind Sie zufrieden?

Dieter Kempf: Von Zufriedenheit kann keine Rede sein. Die neue Bundesregierung hat enorme finanzielle Spielräume, aber beim Geldausgeben besteht eine klare Schieflage in Richtung Umverteilung statt in Zukunftssicherung. In der Steuerpolitik und in der Digitalisierung fehlt der große Wurf. Die neue Koalition muss die Legislaturperiode dringend nutzen, um nachzuarbeiten und Deutschland zukunftsfest zu machen.

Ist die Große Koalition denn wenigstens besser, als es eine Minderheitsregierung gewesen wäre?

Kempf: Ich weiß es nicht. In der Bundesrepublik hatten wir noch nie eine Minderheitsregierung. Der Preis, den eine SPD für ein Wiedereinsteigen in eine Koalition mit der Union verlangt hat, war sehr hoch. Mir stehen viel zu wenige Zukunftsthemen im Koalitionsvertrag, zu meinem Herzensthema Digitalisierung etwa.

Hätte eine Minderheitsregierung für die Wirtschaft Charme gehabt?

Kempf: Eine Minderheitsregierung wäre nur eine Notlösung gewesen. Wir brauchen eine stabile Regierung, die in der Lage ist, lange Linien zu zeichnen. Nur so erhält die Wirtschaft Planungssicherheit, und unsere Partner in der Welt bekommen Klarheit.

Aktuell haben wir allerdings auch das Gefühl, dass sich die Wirtschaft ohne richtige Regierung gar nicht so unwohl fühlt...die Konjunktur läuft ja auf Hochtouren...

Kempf: Ja, die deutsche Wirtschaft läuft rund. Wir gehen ins neunte Jahr dieses Aufschwungs – aber trotz und nicht wegen der Politik der vergangenen Großen Koalition. Dass es der Wirtschaft so gutgeht, hängt bei näherer Betrachtung an vielen anderen Faktoren: starken und innovativen Unternehmen, dem lange Zeit tiefen Ölpreis, den geringen Zinsen, dem jahrelang niedrigen Eurokurs, der aktuell weltweiten konjunkturellen Erholung. Das kann sich aber sehr, sehr schnell ändern, zumal kein Aufschwung ewig währt. Die neue Regierung darf deshalb nicht nur das Hier und Jetzt im Blick haben, sondern muss sich um die Zukunft kümmern.

Wie abhängig ist die Wirtschaft tatsächlich noch von den Entscheidungen einer deutschen Regierung?

Kempf: Auch wenn Abhängigkeit für mich nicht das treffende Wort ist: Unternehmen sind immer direkt von politischen Entscheidungen betroffen. Jede Firma überlegt sich sehr genau, wo sie ihre neue Fabrikhalle eröffnet. Das hängt davon ab, wie teuer die Energie ist, wie viel Steuern zu zahlen sind, ob es genug qualifizierte Arbeitskräfte gibt. Bei all diesen Themen hat die Politik eine große Gestaltungsmacht. Ich weiß, dass viele Unternehmer am liebsten daheim investieren wollen. Doch manchmal stimmt der Rahmen einfach nicht. Wenn wir uns heute über unseren Wohlstand freuen, dann verdanken wir das ganz wesentlich der Tatsache, dass wir so viele Menschen in Lohn und Brot haben wie noch nie. Der Trend schreibt sich aber nicht einfach automatisch fort. Das muss die Politik aktiv gestalten. Leider kann ich diesen Ansatz kaum im Koalitionsvertrag erkennen.

Was fehlt Ihnen da denn?

Kempf: Mir fehlen Weichenstellungen für die Zukunft. In der Steuerpolitik mangelt es trotz guter wirtschaftlicher Lage am Mut zu spürbaren Entlastungen und überfälligen Strukturreformen. Deutschland muss sich dringend dem internationalen Steuerwettbewerb stellen. Wir in der Industrie vermissen zum Beispiel ein klares Bekenntnis zur steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung. Diese ist in nahezu allen Industrieländern selbstverständlich. In der Digitalisierung stimmt zwar das Ziel, aber der Weg ist überhaupt nicht erkennbar. Es bedarf spürbarer Verbesserungen der digitalen Infrastruktur, aber auch für die Digitalisierung im Gesundheitssystem.

Es überrascht uns nicht, dass Sie auf die Wirtschaft pochen. Als BDI-Präsident sind Sie so etwas wie deren Cheflobbyist. Wie oft telefonieren Sie denn mit Frau Merkel?

Kempf: Ich schätze den regelmäßigen Austausch mit der Bundeskanzlerin. Wir beide und unsere Häuser stehen zu Sachfragen in engem Kontakt.

Wir fragen, weil man zuletzt schon den Eindruck haben konnte, dass Politik zu einem braven Diener der Unternehmen degeneriert ist.

Kempf: Diese These teile ich nicht, schauen Sie auf den Koalitionsvertrag. Ich glaube, wir haben in dieser Legislaturperiode noch viel an Überzeugungsarbeit gegenüber der Politik zu leisten. Ich wünsche mir eine engagierte, strategisch untermauerte Wirtschaftspolitik. Dies ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Wohlfahrt und den Zusammenhalt einer Gesellschaft – dafür, Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen.

Sie sind Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Gibt es so etwas wie die "deutsche" Industrie überhaupt noch? Siemens-Chef Joe Kaeser huldigt in Davos US-Präsident Donald Trump und schließt in Deutschland Werke.

Kempf: Deutschland ist das Industrieland in Europa, die ganze EU ist heute der Heimatmarkt unserer Unternehmen. Dieser gemeinsame Wirtschaftsraum ist ein weltweit einzigartig enges Produktionsnetzwerk zum gegenseitigen Nutzen. Viele unserer Unternehmen sind global unterwegs und bestehen nur so den weltweiten Wettbewerb. Davon wiederum profitieren Wirtschaft und Gesellschaft. Im laufenden Aufschwung zahlten die Unternehmen rund eine Billion Euro Steuern, momentan entstehen Werktag für Werktag netto mehr als 2000 Arbeitsplätze in Deutschland.

Aber konterkarieren Entscheidungen wie jetzt bei Siemens nicht Ihr eigenes Argument: dass eine wirtschaftsfreundliche Politik auch der Gesamtgesellschaft dient?

Kempf: Unabhängig von Ihrem Beispiel: Fast alle Unternehmen müssen zuweilen sehr unangenehme Entscheidungen treffen. Um Arbeitsplätze zu erhalten, darf man Jobs nicht einzäunen – diese Strategie würde langfristig misslingen. Und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die allermeisten Unternehmer und Manager nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden. Es geht darum, konkurrenzfähig zu bleiben, um seiner Verantwortung dauerhaft gerecht zu werden. Ihr Auto, Ihre Maschine, Ihr Medikament müssen für die Kunden attraktiv sein. Das gelingt weltweit, wo Menschen unsere Produkte made in Germany freiwillig gern kaufen. Mit dem Ergebnis, dass in der deutschen Industrie etwa jeder zweite Arbeitsplatz dem Export zu verdanken ist. Ich finde es ganz wichtig, den Menschen ihre Sorge vor Globalisierung zu nehmen. Wir sind Nutznießer einer weltweit vernetzten Wirtschaft, als Beschäftigte wie als Konsumenten.

Mit der Digitalisierung erwarten viele Experten große Umbrüche auch in der Arbeitswelt...

Kempf: Es werden Tätigkeiten durch die Digitalisierung wegfallen, aber auch neue Arbeitsplätze entstehen. Wir Deutschen haben immer wieder bewiesen, dass wir Strukturwandel können. In Summe haben wir etwa durch die Einführung von Robotern keine Arbeitsplätze verloren. Als Land
mit der höchsten Roboterdichte in Europa erreicht die Bundesrepublik einen Beschäftigungsrekord nach dem anderen. Dafür ist Bildung der Schlüssel, nehmen Sie die Fortentwicklung des Automechanikers zum Mechatroniker.

Also: bloß keine Panik — aber jeder sollte sich seinen Job genau anschauen?

Kempf: Genau, das ist meine Botschaft: Schaut euch euren Job an, euren Arbeitsplatz, euren Beruf, eure Arbeitsinhalte. Schaut euch die Tätigkeiten an, die durch Maschinen oder Software ersetzbar sind. Und sorgt mit intensiver Weiterbildung dafür, dass ihr nicht in Abhängigkeit von diesen Tätigkeiten geratet.

Ist da auch die Politik gefordert?

Kempf: Klar. An den Schulen ist Informatik als Pflichtfach wenigstens wünschenswert. Es muss ja nicht jeder gleich Programmierer werden, aber Informatik muss heute zum Allgemeinwissen gehören.

Leben wir generell in einer Umbruchphase mit ungewissem Ausgang, in der viele bewährte Strukturen heute nicht mehr passen?

Kempf: Die kurze Antwort ist: Ja, denn die Welt dreht sich weiter. Und für mich hat die Veränderung zu tun mit der Digitalisierung. Diese hat eine Geschwindigkeit, bei der es sehr schwer wird, mit den bisherigen Mechanismen ausreichende Rahmenwerke aufzubauen. Nehmen wir das Thema Datenschutz: Die Politik tut sich wahnsinnig schwer, den Datenschutz in Zeiten von Industrie 4.0 zu regeln. Und wundert sich dann, wenn nicht mehr passt, was nach langen Beratungen herauskommt. Datensparsamkeit war lange das Prinzip der Politik, aber damit kämen wir heute nicht mehr weit – weder beim Einkauf noch im selbstfahrenden Auto.

Aber was ist die Alternative? Es einfach laufen lassen?

Kempf: Keineswegs. Verstehen Sie mich nicht falsch. Wirtschaft und Politik müssen gestalten. Mein Vorschlag ist, beim Gestalten von Rahmenbedingungen auch stärker dem Prinzip Versuch und Irrtum zu vertrauen. Zu sagen: Lasst uns eine mögliche Lösung ausprobieren – für drei Monate, sechs Monate, von mir aus regional begrenzt. Wir glauben in Deutschland immer, wir brauchen für eine neue Herausforderung die eine, die perfekte Lösung, die in jeder Lebenssituation hält. Dynamische Themen wie die Digitalisierung damit zu fassen wird schwierig.

Wenn Sie Bundeskanzler wären...

Kempf: ...wäre ich völlig ungeeignet. Und weil ich das weiß, strebe ich kein Amt in der Politik an.

Falls doch: Was wären denn die ersten drei Themen, die Sie als Regierungschef vorrangig anpacken würden?

Kempf: Sie werden es ahnen, erstens ist mir Digitalisierung ein zentrales Thema, weil es das Leben von jedem von uns stark beeinflusst – ob es uns gefällt oder nicht. Daher würde ich mich auch mit großer Energie der Bildungspolitik widmen, um die Zahl der Jugendlichen zu senken, die ohne Abschluss die Schule verlassen. Die Bildungspolitik von heute ist die beste Wirtschaftspolitik für morgen.

Zweitens würde ich echte Steuerpolitik machen. Das ist Politik für unseren Standort. Deshalb halte ich den Wegfall des Solis und echte strukturelle Reformen für überfällig.

Kempf: Drittens sollten wir uns um die internationale Politik kümmern. Sehr am Herzen liegen mir insbesondere die sichere Zukunft der Europäischen Union, aber auch das transatlantische Verhältnis zu den USA und die Beziehungen zur neuen aufsteigenden Weltmacht China. Da sollten wir Deutschen und Europäer selbstbewusst sein und weltoffen bleiben.

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