FDP-Chef Christian Lindner: "Hartz IV ist ein Magnet"

7.5.2018, 06:00 Uhr
FDP-Chef Christian Lindner:

© Stefan Hippel

Herr Lindner, Sie haben jüngst den Haushaltsentwurf von SPD-Finanzminister Olaf Scholz scharf kritisiert. Aber er wirtschaftet doch solide, macht keine neuen Schulden, setzt Schäubles Kurs fort – was stört Sie daran?

Christian Lindner: In diesen Zeiten ist eine Schwarze Null nicht Ausdruck von solidem Wirtschaften, sondern das Gegenteil. Aufgrund der niedrigen Zinsen und der bombastischen Wirtschaftslage müsste der Staat eigentlich hohe Überschüsse erzielen – die müssten dann investiert oder, besser noch, den Bürgerinnen und Bürgern und dem Mittelstand durch eine Steuerentlastung zurückgegeben werden.

Um solch eine Entlastung zu finanzieren, müsste Olaf Scholz doch neue Schulden machen.

Lindner: Nein. Es würde schon reichen, wenn Herr Scholz auf diese Kamellepolitik verzichten würde: Politiker versuchen populär zu werden, indem sie das Geld wie im rheinischen Karneval mit vollen Händen unter die Leute werfen. Wir sind aber nicht in einer Zeit, in der wir zusätzliche Subventionen, Progrämmchen und vergrößerte Ministerien brauchen. Wir sollten das Geld sparen und dort Schwerpunkte setzen, wo Zukunft gemacht wird. Und das bleibt völlig aus.

Der Berliner Bürgermeister Michael Müller hat mit seiner Idee eines "solidarischen Grundeinkommens" einen Vorschlag gemacht, der mehr ist als ein bloßes Progrämmchen: Jeder Arbeitslose soll, wenn er das will, einen vom Staat bezahlten Job erhalten. Jemand leistet etwas und bekommt dafür mehr staatliche Hilfe – das müsste der FDP doch gefallen.

Lindner: Ich interpretiere Herrn Müllers Vorschlag anders. Er will die alten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aus den 90er Jahren wieder einführen, für die die Leute kleines Geld bekommen – für mich ist das eine Art Stilllegungsprämie. Ich bin für einen anderen Weg: Wir müssen die Menschen befähigen und so aktivieren, dass sie auf dem regulären Arbeitsmarkt bestehen können. Viele Langzeitarbeitslose sind in der Situation, dass sie nicht sofort Vollzeit arbeiten können. Für sie wäre der richtige Weg, Stunde für Stunde ihre Berufstätigkeit auszuweiten. Das ist mit den gegenwärtigen Hinzuverdienstregelungen für Hartz-IV-Empfänger aber kaum attraktiv. Ich halte es für einen Skandal unseres Sozialstaats, dass in bestimmten Konstellationen von jedem zusätzlich verdienten Euro 80 Cent an den Staat gehen oder man sogar weniger Netto hat. Wir sagen: Jede zusätzliche Stunde Arbeit muss sich lohnen. Der Zugriff des Staates darf niemals höher als 50 Prozent sein.

Vielen Langzeitarbeitslosen fehlen berufliche Qualifikationen, doch Helferstellen, die für sie in Frage kämen, sind Mangelware. Die Jobs, die Sie als Einstieg in den Arbeitsmarkt skizzieren, gibt es also gar nicht.

Lindner: Sie sagen, die Jobs gibt’s nicht, aber es gibt den Bedarf, zum Beispiel bei haushaltsnahen Dienstleistungen. So viele Langzeitarbeitslose haben wir nicht, als dass nicht eine Volkswirtschaft von 80 Millionen in der Lage wäre, für sie Jobs zu finden.

Gesundheitsminister Jens Spahn hat mit seiner Äußerung, Hartz IV sei nicht Armut, für eine Kontroverse gesorgt. Was sagt der FDP-Chef – ist Hartz IV Armut?

Lindner: Hartz IV ist eine Sicherung des sozioökonomischen Existenzminimums, es ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf sonst drohende bittere Armut und Not. Ich halte die Debatte aber für verfehlt, denn wir können mit Hartz IV nicht zufrieden sein. Hartz IV ist ein Magnet, der Menschen im Sozialleistungsbezug festhält, weil sich Arbeit zu wenig rentiert.

Die Grünen wollen die Hartz-IV-Sanktionen abschaffen. Was halten Sie davon?

Lindner: Das halte ich für Unsinn. Wenn man auf Sanktionen verzichtet, erweckt man den Eindruck, Hartz IV sei eine Art Grundeinkommen. Die Solidarität der Gesellschaft erfolgt aber nicht ohne Gegenleistung. Die Gegenleistung ist, dass man nur so lange wie nötig solidarische Leistungen in Anspruch nimmt. Ich wünsche mir klare Sanktionen, wenn man sich nicht um Arbeit, um Bildung, um Sprache bemüht. Denn machen wir uns das mal klar: Bei Hartz IV geht es auch um Integration. Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger mit Zuwanderungs- oder Fluchtgeschichte wird in den nächsten Jahren explodieren. Auf Sanktionen zu verzichten, würde hier das Signal aussenden: Du brauchst dich gar nicht zu integrieren.

Es gibt Flüchtlinge, die haben Qualifikationen, dürfen aber nicht arbeiten, weil sie nur geduldet sind. Das ist doch widersinnig.

Lindner: Ich kann nur zustimmen. Die neue Regierung wäre gefordert, unser Zuwanderungsrecht zu modernisieren. Man muss drei Zugänge nach Deutschland klar trennen: Erstens das Asylrecht für diejenigen, die individuell verfolgt sind. Zweitens vorübergehender Schutz für diejenigen, die vor einem Krieg oder einer Naturkatastrophe fliehen. Dieser Schutz muss begrenzt sein auf die Zeit, in der die Heimat nicht sicher ist. Deswegen bin ich hier, abgesehen von absoluten Härtefällen, auch gegen einen Familiennachzug. Warum soll jemand, der gar kein Daueraufenthaltsrecht hat, seine Familie nachholen dürfen? Drittens qualifizierte Einwanderung mit einem klar geregelten Punktesystem. Wenn man dann noch zwischen den drei Bereichen wechseln könnte, hätten wir ein sauberes, in sich schlüssiges System.

Ähnliche Forderungen gibt es seit vielen Jahren, doch es tut sich nichts.

Lindner: Das Einwanderungsthema ist eine deutsche Lebenslüge. Es fing mit dem Wort "Gastarbeiter" an, weil man dachte, diese würden wieder gehen. Es ging weiter mit dem Satz, Deutschland sei kein Einwanderungsland, und reicht bis zur naiven Vorstellung der politischen Linken, Integration vollziehe sich von allein oder Integration sei vor allem unsere Aufgabe als aufnehmende Gesellschaft. Integration ist aber zuerst Aufgabe derjenigen, die hierher kommen. Diese Lebenslügen aufzulösen, ist eine Schlüsselfrage der kommenden Jahrzehnte – weil damit die Befriedung der Gesellschaft und die Stabilität unseres Sozialstaats verbunden sind.

Das gesamte Interview lesen Sie in der Montagsausgabe der Nürnberger Nachrichten.

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