Rahmel ist bald weg: Von Erlangen zurück ans Meer

26.1.2017, 12:00 Uhr
Rahmel ist bald weg: Von Erlangen zurück ans Meer

© Zink

Es gab am Mittwoch zum Glück noch keine Nachrichten über junge Mädchen in Handballtrikots mit der Nummer 23, die suizidgefährdet in die Kinderklinik eingeliefert wurden. Wohl aber, das darf man annehmen, gab es Tränen nicht nur in Kinderzimmern, als sich die Nachricht verbreitete. Und sie verbreitete sich schnell: Ole Rahmel, 27 Jahre alter Handballer des HC Erlangen, wird den Verein und alle, die ihn ins Herz geschlossen haben, im Sommer verlassen.

Und wie das so ist, wenn eine Identifikationsfigur die Stadt verlässt, funktioniert das eben nicht ohne Herzschmerz, ohne Trauer und ohne Tränen. "Dafür", sagte Rahmel am Mittwoch, "ist es doch noch zu früh." Ein halbes Jahr spielt er ja noch für den HC Erlangen, für diese Stadt, in die er dann, wenn Tränen erlaubt sein werden, vor vier Jahren gekommen ist. Mit 22 Jahren, halb so vielen Tattoos und kurzgeschorenen Haaren, vom Konkurrenten Tusem Essen.

"Ich hätte mir nie träumen lassen, wie sehr mein Herz an den Menschen, an dem Verein, an allem hier einmal hängen würde. Dass ich mich im Süden so wohlfühlen kann wie hier in Erlangen", sagt Ole Rahmel. "Denn es gibt hier ja gar kein Meer. . ."

Dort, am Meer, auf der Insel Norderney, ist er mit seinen Eltern und dem Bruder aufgewachsen. Eine behütete kleine Welt. Alle Wege, erzählte Rahmel einmal und lächelte, kann man auf dem Fahrrad zurücklegen. Auch den hinunter zum Meer, wo ihn immer, wenn Handballpause ist, Bilder zeigen: Im Sommer auf dem Surfbrett, im Winter mit hochgeschlagenem Kragen, wie er gedankenverloren den grauen Wellen zusieht, wie sie an den Strand rollen. Das Meer, es hat zu großen Teilen die Familie ernährt – der Vater ist Meeresbiologe, die Mutter Lehrerin. Das Meer hat ihn ins Handballtraining getragen, und wenn die Fähre mal wieder bei Niedrigwasser auf Grund lief, dann verbrachte Ole Rahmel den Nachmittag eben mit seiner Sporttasche an Deck und beobachtete die Vögel und die Wolken, wie sie Figuren formten: "Ich möchte, dass meine Kinder auch einmal auf Norderney aufwachsen", sagt er.

Ihn zog dann der Handball fort, wie die Wellen ein Stück Holz: Jugendinternat beim VfL Gummersbach, Wechsel zu Tusem Essen, dort einmal Bundesliga und zurück. Dann der HC Erlangen. Gleich im ersten Jahr der Aufstieg in die Bundesliga, es war der erste überhaupt dieser Stadt. Rahmel, wie er in einer stickigen, nach Bratfett riechenden Sporthalle in Bietigheim Frank Bergemann vor lauter Glück auf die Glatze küsst. Kein anderer Erlanger Spieler hatte mehr Tore geworfen in dieser Saison, wie schon in Essen im Aufstiegsjahr nicht. Die Entwicklung des Linkshänders bekommt in der ersten Liga noch einmal Schub, "dabei", sagte er einmal, "ging es mir immer nur darum, mit Handball ein wenig Geld zu verdienen, so dass ich nicht wie andere während des Studiums Kellnern gehen muss".

Das Studium aber, Grundschullehramt, schmeißt Rahmel. Er tritt stattdessen eine Lehre als Bierbrauer in Erlangen an – die Verwirklichung einer Idee seines Vaters: Ein Inselbier brauen, in einem kleinen Haus leben, jeden Morgen nach dem Aufstehen das Meer sehen können – das ist der neue Traum. Einen vom Handball gibt es nicht – den lebt Rahmel ja längst beim HCE. Er wird Nationalspieler und ins All-Star-Team gewählt. Kein Trikot verkauft sich besser als das mit seiner 23, es gibt kein Selfie, das häufiger geschossen wird, als eines mit ihm. Kleine Buben hängen sich sein Autogramm ans Bett – als Schutz vor bösen Träumen. "Ole ist ein wahnsinnig liebenswürdiger, ein besonderer Mensch", sagt Carsten Bissel, der Aufsichtsratsvorsitzende, "einer, der als Handballer aber im Körper eines Kriegers steckt." Rahmel ist nicht nur freundlich, sein Lebenswandel ist vorbildlich, stundenlang kann er sich im Kraftraum schinden. In Erlangen war er nicht einmal ernsthaft verletzt — nur sein Stolz ist es, beim Abstieg.

In einem schwachen Moment, so muss man es heute sagen, unterschreibt er nach Informationen dieser Zeitung beim großen THW Kiel. Dann durchläuft er die erste sportliche Krise seiner Karriere, schließt in nächtelanger Arbeit die Lehre zum Brauer ab. Seit dem Aufstieg, scheint es, hat er sein Glück wieder gefunden: "Erlangen", sagt Ole Rahmel, "ist meine zweite Heimat geworden."Eine ohne das Meer und eine, aus der er eigentlich gar nicht mehr weg wollte.

"Ole wollte nun bei uns bleiben, hat dies auch ganz deutlich zum Ausdruck gebracht", ließ sich Geschäftsführer René Selke gestern zitieren, "sein neuer Klub war jedoch nicht bereit, den geschlossenen Vertrag aufzulösen". Ein Verein, dem zum allerersten Mal, seitdem der Berliner Oberturnwart Max Heiser 1917 Handball erfand, ein Spieler nicht blind in die ausgebreiteten Arme rennt. Obwohl in Kiel auch das Meer nicht weit ist.

Nein, Ole Rahmel würde das nicht so sagen, aber auch er hat sich verliebt: In diese Stadt, in ihre Menschen und in diesen Verein.

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