Armut im Fokus

18.12.2015, 14:00 Uhr
Armut im Fokus

© Horst Linke

Ihre Heimatstadt ist Herzogenaurach. Hier hat eine ihrer Schwestern ein Optiker-Geschäft, hier wohnen zwei Cousinen. Deshalb kommt Ilse Weiß (55) auch immer gerne zu Besuch in die Aurachtstadt. „Ich habe viele schöne Erinnerungen und eben tolle Familienangehörige“, sagt sie.

Sie selbst hat es aber hinausgezogen in die große weite Welt. Nach ihrem Studium der Wirtschaftswissenschaften absolvierte Inge Weiß eine Redakteursausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München, arbeitete danach zehn Jahre lang bei der Abendzeitung in Nürnberg. Und dann ein mutiger Schritt: „Als unser Tochter fünf Jahre alt war, wollten mein Mann und ich reisen. Also habe ich gekündigt, wir haben unsere Rucksäcke gepackt und alles hinter uns gelassen“, erzählt Weiß. Ein dreiviertel Jahr ging es nach Japan, Südkorea, Thailand, Malaysia, Singapur, Laos, Burma und Australien. Diese Zeit habe sie nie bereut, die Erfahrungen seien ein „wertvoller Schatz“. Was sie mitgenommen hat? „Ich habe vor allem ganz viel Demut gelernt, dem Leben und dem Glück des Lebens gegenüber.“

Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass sich Ilse Weiß heute für die Menschen engagiert, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, die Obdachlosen nämlich. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland arbeitete Ilse Weiß zunächst als freie Journalistin, bis sie 2002 ein Anruf des „Straßenkreuzer e.V.“-Gründers Walter Grzesiek erreichte, ob sie, die auch schon ehrenamtlich für das Magazin gearbeitet hatte, nicht Lust hätte, professionell einzusteigen. „Ich habe sofort ja gesagt, das hat mich total interessiert.“ Auch diese Entscheidung hat sie nie bereut: „Ich finde es bis heute wunderbar.“

Besonders schätzt Ilse Weiß, dass sie „größte Freiheiten“ hat, ein hochwertiges Magazin zu gestalten. Und nicht nur irgendein Magazin, sondern eines, das Menschen hilft, indem es einerseits über Missstände berichtet und andererseits den Obdachlosen Perspektiven bietet. „Damit hat der Straßenkreuzer für mich eine doppelte Sinnhaftigkeit.“

Angefangen hat die Journalistin damals mit 18 Wochenstunden, das Heft erschien nur viermal im Jahr. Doch selbst das war rein ehrenamtlich eben nicht mehr zu stemmen, sodass sich der Verein mit Ilse Weiß eine fest angestellte Teilzeitkraft leistete; finanziert auch durch Spenden. „Es war klar, dass wir das Ehrenamt pflegen, gleichzeitig aber ein professionelles Produkt herstellen wollen“, so Weiß. „Alles andere wäre den Verkäufern gegenüber nicht würdig.“

60 Obdachlose verkaufen heute den Straßenkreuzer, der seit 2010 nun einmal monatlich erscheint, im Schnitt mit einer Auflage von 14 000. 90 Cent pro Stück zahlen die Obdachlosen, der Verkaufspreis liegt bei 1,80 Euro; der Erlös gehört dem Verkäufer. Ilse Weiß‘ Arbeitszeit beträgt inzwischen 30 Stunden. Eine weitere fest angestellte Redakteurin und eine Verwaltungskraft ergänzen das Team. Der Vertrieb läuft allerdings weiterhin mit rund 20 Ehrenamtlichen. Und auch Ilse Weiß leistet weit mehr als ihre „Pflichtstunden“. Denn „ich finde es wichtig, dem Verein auch noch ein Stück Ehrenamt zu geben“. Dazu gehört auch, immer eine offene Tür und ein offenes Ohr für die Verkäufer zu haben.

Die Geschichten im „Straßenkreuzer“ schreiben Journalisten — viele ehrenamtlich; sie stellen immer Menschen in den Mittelpunkt, denen es nicht so gut geht. Armut, Ausgrenzung, Feindlichkeit, Ungerechtigkeit sind die vorherrschenden Themen. „Wir wollen den Fokus auf Menschen setzen, die sonst oft vergessen werden“, sagt Ilse Weiß. Der „Straßenkreuzer“ bietet einen Weg aus der Anonymität, und zwar jenseits jeglicher Scham. Wenn dann ein Verkäufer kommt und sagt „Ich will auch mal aufs Titelbild“, dann ist das für Ilse Weiß der schönste Lohn. Denn obwohl sie viel Negatives sehe, „habe ich gelernt, mich an den positiven Erlebnissen zu orientieren.“

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