Knut entkam dem doppelten Todesurteil
28.12.2010, 06:55 UhrAm Morgen des 20. Juni 1939 sieht der damals 14 Jahre alte Knut in Berlin zum letzten Mal seinen Vater. Monatelang hatten die Eltern eine sichere Bleibe für den geistig behinderten Buben gesucht. Das Schloss in Bruckberg, zwölf Kilometer von Ansbach entfernt, schien ihnen der geeignete Ort. Denn die Eltern haben Angst: Knuts Vater ist jüdischer Abstammung, und wegen der Behinderung des Jungen haben wiederholt Amtsärzte des NS-Regimes die Familie einbestellt.
Erbgutachten, Sterilisation – die Schikanen reißen nicht ab. Es dauert lange, bis Knut überhaupt Berlin verlassen darf. Der Schriftwechsel von Knuts Vater, einem promovierten Geisteswissenschaftler und Chemiker, mit den Behörden in Berlin-Charlottenburg ist noch immer in der Eingangsakte in Bruckberg erhalten.
Katzenzungen zum Abschied
An dem frühsommerlichen Dienstagmorgen im Juni 1939 ist es soweit. Bis heute hat Knut Rheinhold die Bilder dieses Tages nicht vergessen. Sein Vater schenkte ihm zum Abschied Schokolade, „Katzenzungen“, sagt der rüstige Senior. Er verstummt, schließt die Augen und erzählt erst nach gefühlten Minuten weiter. Von Berlin-Lichterfelde brachte ihn eine Mitarbeiterin der Inneren Mission nach Ansbach. „Ankunft 16.27 Uhr“, das ist noch heute in den Akten vermerkt.
Knut Rheinhold hat die Gabe, das Positive zu sehen. Er schwärmt von dem „schönen, blonden Fräulein Vormann“, das ihn nach Bruckberg begleitete. Nur kurz streift er seine seelischen Schmerzen, als er in das unwirtliche Schloss einzog: Im Schlafsaal mit Stockbetten für 30 Menschen war der Junge plötzlich ganz alleine. „Na, das war eine schwierige Lage“, sagt er und findet schnell ein anderes Thema.
Seine Mutter: Der 86-Jährige blättert in seinem in rotes Leder eingebundenen Album und zeigt das Bild einer attraktiven jungen Frau. „Sängerin war sie.“ Operette, Oper, Motetten in der Kirche.
Knut wurde am 24. November 1924 in München geboren, er wuchs in Hamburg und Berlin in einer begüterten Familie auf. Ein Foto zeigt den fünfjährigen Knut mit seiner Großmutter an Heiligabend 1929 vor einem reich geschmückten Christbaum.
Martin Piereth von der Heimleitung in Bruckberg hat in den Akten Belege gefunden, dass die Eltern von Knuts Vater nach 1939 noch Geld nach Bruckberg geschickt hatten.
Plötzlich, mitten im Krieg, reißen die Kontakte ab. Belegt ist, dass der Vater des Jungen im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet wurde. Knut Rheinhold weiß um diese Tragödie. „Schlimme Lage“, sagt er. „Aber jetzt ist es besser.“
Dabei ist es wohl ein Wunder, dass Knut Rheinhold die ersten Jahre in Bruckberg überhaupt überlebt hat. 1941 wurden etliche Bewohner der Bruckberger Anstalt mit Bussen abgeholt und später ermordet. Der Senior mag sich an die Zeit nicht mehr erinnern, als die Nazis die Anstaltsleitung übernahmen. Nur so viel sagt er: „Meine Freunde waren nicht mehr da. Und wir hatten doch so viel zu tun in der Gärtnerei.“
Was ihn gerettet hat? Rheinhold war 1941 ein kräftiger Jugendlicher, unverzichtbar in der Gärtnerei. Und seine jüdische Herkunft muss wohl aus den Akten radiert worden sein. Zusammen mit seiner Behinderung wäre das in der barbarischen Logik der Nazis ein doppeltes Todesurteil gewesen.
Die Akten von Bruckberg erzählen manche ähnliche tragische Geschichte. Zum Beispiel die von Otto H. Er ist zwei Jahre älter als Rheinhold. Schon 1934 kam er nach Bruckberg. Weil seine Familie aber um die Bedrohung behinderter Menschen wusste, holte ihn seine Mutter 1940 nach Hause und versteckte ihn – erst sieben Jahre später kam Otto H. zurück nach Bruckberg. Heute gehört Otto H. mit Knut Rheinhold zu den ältesten der etwa 500 behinderten Menschen in dem Ort bei Ansbach.
Mitten im Krieg wurde das Schloss zum Lazarett für Soldaten. Knut Rheinhold, von der Arbeit und der schlechten Ernährung geschwächt, bekam eine Lungenentzündung und hatte wochenlang hohes Fieber. Daran erinnert er sich gerne, denn die Soldaten päppelten den jungen Mann mit Essen auf und freuten sich an seiner herzlichen, hilfsbereiten Art.
In den Ferien ins Konzert
In der Nachkriegszeit traf er seine Mutter wieder, die inzwischen in München lebte. Sie besuchte ihn regelmäßig. Und auch Verwandte aus Starnberg kümmerten sich um Knut: Er durfte in den Ferien nach Oberbayern reisen und besuchte mit ihnen Konzerte, Theater und Volksbühnen: „Sie waren in kultureller Lage engagiert“, sagt Knut Rheinhold und schwärmt von seinen Erlebnissen, die ihn nachhaltig geprägt haben. Keine Folge des Königlich Bayerischen Amtsgerichts im Fernsehen mag er versäumen, keine Volksmusiksendung läuft ohne den rüstigen Mann, der so herzhaft lachen kann.
Weihnachten 2010 in der Wohngruppe mitten in Bruckberg, ein paar Schritte von der Martinskirche entfernt, verbreitet Knut Rheinhold nach dem Kirchgang unter seinen Mitbewohnern gute Laune. Er hilft gerne, hat ein freundliches Wort für jeden und freut sich über sein Geschenk. Einen Kalender hat er sich gewünscht, mehr nicht. „Mir geht es ja so gut“, sagt er mit ansteckendem Optimismus, und blättert freudig in seinem roten Fotoalbum.