19. Dezember 1965: "Tischlein deck dich" zum Fest

19.12.2015, 07:00 Uhr
19. Dezember 1965:

© Ulrich

Nachdem in den meisten Familien die Wunschzettel abgehakt sein dürften, wird nun der weihnachtliche Küchenzettel zusammengestellt. In den Spezialgeschäften ist man auf den Ansturm vorbereitet, der heute beginnen und bis zum Heiligen Abend anhalten wird.

Der „Ernte des Jahres“, wie der Einkaufsleiter eines großen Geschäftes die Weihnachtswoche nannte, ist in der Lebensmittelbranche der Versand vorangegangen. Seit Wochen wurden Kisten und Körbe gepackt und in alle Welt verschickt. Am meisten gefragt waren typisch heimatliche Spezialitäten: Nürnberger Lebkuchen, Nürnberger Bratwürste und Ochsenmaulsalat und Nürnberger Edelbitter, dazu Frankenwein und Christstollen.

19. Dezember 1965:

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Erstaunlich viele Gönner und Geber, die sich Freunden und treuen Mitarbeitern verpflichtet fühlten, ließen sich auch in diesem Jahr wieder von der Delikatessen- und Spirituosenbranche fachmännisch beraten. Die verlockende Vielfalt des Angebots gab die Gewißheit, daß etwas für jeden Geschmack in der Geschenkkiste oder im Präsentkorb enthalten sein würde, denn wer vieles schenkt, schenkt jedem etwas.

Allerdings sollte nicht der Eindruck entstehen, daß man den weihnachtlichen Speisezettel mit fetten Genüssen bereichern wollte. In dieser Absicht hatte man nach der Währungsreform geschenkt. Dann war es einige Jahre nicht üblich, Freunde mit Speis und Trank zu erfreuen. Es gab Lederwaren und andere wertvolle Gebrauchsgegenstände. Heute, wo jeder alles hat, sind wieder ausgesuchte Delikatessen und exotische Spezialitäten erwünscht.

Es durfte Gänseleber aus Straßburg, Malosol-Kaviar, luftgetrocknetes Graubündener Fleisch, echte chinesische Schwalbennestersuppe sein, garniert mit Christmas Plum-Pudding aus England, angereichert mit erlesenen Früchten, süß und süßsauer konserviert in Gläsern, dazu etwas ungarische Salami, Rentierklößchen und Hasenpastete, Hawaii-Ananas und südafrikanische Honigmelonen, Krimsekt und Baumkuchen.

19. Dezember 1965:

© Ulrich

Das Auge soll sich an Weihnachten beim Anblick der Delikatessen mitfreuen. Deshalb waren schon im Sommer und Herbst Geschenkkörbe und Präsentkisten bestellt worden. Die Spirituosenindustrie lieferte italienischen Wein in Silberamphoren, Cognac in numerierten Kristallkaraffen und Whiskypullen eingenäht in Jutesäcke mit dem Vermerk: „Shipped bottled by...“

Ausbund festlich-versnobter Phantasie war in diesem Jahr die Flasche „Tantalus“, ein edler Birnenbrand mit eingewachsener Frucht. Die Flasche ruht auf einem Teakholzfuß und ist mit einem schmiedeeisernen Gestänge verbunden, dessen oberes Querteil mit einem Schloß gesichert werden kann. Wer keinen Schlüssel besitzt, erleidet die Qualen des Sagenhelden Tantalus, der durstend im Wasser stehen mußte.

Geschäft läuft prächtig

Das Versand- und Präsentgeschäft war in der Lebensmittel- wie in der Spirituosenbranche sehr gut. Der Inhalt der Körbe war bis zu 500 DM wert. Weil aber nicht alle Nürnberger Kaviar aus Rußland und Backschinken aus Paris, Flensburger Rauchaal und frische Gänsestopfleber, holländische Austern und Brüsseler Trauben essen können oder wollen, liegt auch für die Bescheidenen eine reiche Auswahl auf Lager.

„Zu Weihnachten soll sich jeder etwas Besonderes leisten können,“ versicherte der Einkaufschef eines großen Filialbetriebes. Er verwies vor allem auf die preisgünstigen Gänse und Truthähne, die billiger als vor einem Jahr angeboten werden. Im Nürnberger Raum dominiert noch die Gans als Festtagsbraten, während in anderen Teilen der Bundesrepublik Pute und Truthahn am meisten gefragt sind. Der Grund: die Gans ist vielen Feinschmeckern zu fett.

Die Hauptlieferanten für das tiefgefrorene Geflügel sind Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die Tschechoslowakei. Puten kommen auch aus Amerika, Enten aus Polen, Ungarn und Holland. Wer unbedingt eine knusprige Passauer Gans als Weihnachtsbraten auf dem Tisch sehen will, muß allerdings erheblich mehr zahlen. Die Mast ist bei uns wesentlich teurer als in den Ländern, die auf Geflügelzucht spezialisiert sind.

Der Fisch- und Wildhandel erwartet das große Geschäft erst ab Mittwoch nächster Woche. Auch hier ist man für alle Ansprüche eingedeckt. Es gibt Karpfen aus der näheren Umgebung, die in Nürnberg etwa eine Mark pro Pfund billiger sein sollen als in anderen Städten, Forellen aus Dänemark und frische Schleien, gute Räucherwaren und Dosen mit saurem Inhalt, die man an Feiertagen nicht vergessen sollte. Wild wird nach dem regenreichen Sommer nicht so viel angeboten wie in den Vorjahren. Deshalb sind die Preise etwas gestiegen.

In der Wein- und Spirituosenbranche wirkt sich die Erhöhung der Sekt- und Branntweinsteuer bereits mitten im Weihnachtsgeschäft aus. Der Sekt soll im neuen Jahr pro Flasche um 50 Pfennig teurer werden. Die Preise für die Spirituosen werden, je nach Alkoholgehalt, um 80 Pfennig bis 1,70 DM steigen. Ausgesprochene Hamsterkäufe hat es in Nürnberg bisher nicht gegeben. Verschiedene Sektkellereien können dagegen keine Nachbestellungen mehr annehmen, weil sie ausverkauft sind. Die Weintrinker legen in diesem Jahr mehr als bisher Wert auf Qualität. Bevorzugt sind naturreine Sorten des Jahrgangs 1964, der billiger als der 65er angeboten wird.

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