"Wir schauen nach vorne"

4.11.2017, 16:04 Uhr

Sobald Raza und Faisal Sharif über ihre Kinder Shiraz und Arwa sprechen, leuchten ihre Augen, und sie lächeln übers ganze Gesicht. Die Liebe zu ihrem Sohn und ihrer Tochter erfüllt das Ehepaar. Nachmittags, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt und den Schlüssel ans Schlüsselbrett steckt, dann hört er schon, wie sich die Kleinen im Wohnzimmer freuen, erzählt Faisal Sharif. Wenn das Wetter schön ist, dann geht die ganze Familie noch raus aus der Mietwohnung auf die Wöhrder Wiese, frische Luft tanken.

So unbeschwert wie es auf den ersten Blick scheint, ist das Familienleben der Sharifs allerdings nicht, denn es ist ein Leben mit behinderten Kindern.

Shiraz hat es ziemlich hart getroffen. Der viereinhalb Jahre alte Junge mit den pechschwarzen Haaren leidet an einer schweren Form von Epilepsie, verbunden mit einer starken Spastik. Er hängt in seinem speziellen Kinderwagen, festgeschnallt mit einem Hosenträgergurt wie in einem kleinen Rennwagen. Seine Arme sind nach außen verdreht, sein Blick geht ins Leere. Shiraz atmet schwer, sein Hals ist stark verschleimt, aber er kann nicht abhusten. Das Trinken fällt ihm schwer; seine Mutter gibt ihm mit einer kleinen Spritze tröpfchenweise Wasser in den Mund. Auch essen kann er nicht selbstständig, weil sein Schluckreflex gestört ist. Die Mama kocht für ihn Fleisch und Gemüse mit Kartoffeln, Nudeln oder Reis und püriert das Ganze zu einem glatten Brei, den er mit einer Spritze über einen Schlauch durch die Bauchdecke direkt in den Magen gedrückt bekommt. Fertignahrung verträgt er leider nicht. Shiraz wird niemals sprechen und laufen können, geschweige denn eines Tages ein selbstständiges Leben führen. Er wird vielmehr immer auf Hilfe angewiesen sein, auf intensive Betreuung und Förderung.

Für Außenstehende mag Shiraz ein bemitleidenswertes Kind sein, und mancher, der schon erlebt hat, wie anstrengend und fordernd gesunde Kinder sein können, wird sich sagen: Das könnte ich nicht!

Die Eltern Raza und Faisal Sharif sind nie gefragt worden, ob sie das können oder wollen. Das Leben hat sie einfach vor diese Aufgabe gestellt.

Ihre Pläne waren andere. Die Familie stammt aus einem muslimischen Land. Welches, das braucht hier keine Rolle zu spielen, ebenso wenig wie ihre tatsächlichen Namen. Das Ehepaar möchte anonym bleiben, es ist den beiden aber wichtig, ihre Geschichte zu erzählen, und anderen, die in einer ähnlichen Situation stecken, Mut zu machen oder Verständnis zu wecken. Faisal, 45, kam vor etwa 25 Jahren nach Deutschland, seine Frau Raza ist 32 und wanderte vor sechs Jahren nach ihrem Psychologiestudium hierher aus. Sie hätte ihre Ausbildung gerne noch weiterbetrieben, aber das Leben mit Shiraz lässt das nicht zu.

Der kleine Shiraz ist als absolutes Wunschkind in ihr Leben gekommen, unterstützt durch ein Kinderwunschzentrum, das mittels Hormonen den Wunsch Wirklichkeit hat werden lassen.

Es war eine unauffällige Schwangerschaft, erinnert sich Raza Sharif an die neun Monate vor der Entbindung. Die Ultraschallbilder deuteten auf ein ganz normal entwickeltes, gesundes Kind hin. Shiraz kam zehn Tage nach dem errechneten Termin in der Klinik Hallerwiese auf die Welt. Es war eine schwere Geburt, die sich über 24 Stunden hinzog; am Ende wurde er mit einer Saugglocke ans Licht der Welt gezogen. Die Ärztin nahm den kleinen Jungen sogleich mit in einen Nebenraum und untersuchte ihn. Als sie mit dem Baby zurückkehrte, fragte sie die Hebamme, ob zuvor alles gut verlaufen sei. Sie bejahte. Die beiden tauschten Fachbegriffe aus, die der junge Vater, der dabeistand, nicht verstand.

Die Szene geht Faisal Shiraz bis heute nicht aus dem Kopf. Sie verfolgt ihn. Lief bei der Geburt etwas aus dem Ruder? Ging etwas schief? Hätte er etwas tun können? Wer oder was ist verantwortlich dafür, dass sein Kind mit diesem schweren Handicap ins Leben geworfen wurde? Alle Experten versicherten ihm, dass Shiraz’ Behinderung nichts mit der Geburt zu tun hat. Und doch nagen die letztlich unbeantworteten Fragen bis heute an ihm. Diese Schuldfrage stellen sich alle Eltern von behinderten Kindern, weiß Sabine Pragst, Sozialpädagogin bei der Frühförderung der Lebenshilfe Nürnberg.

Die ersten Tage und Wochen im Leben von Shiraz lassen zwar erahnen, dass etwas mit ihm nicht stimmt, aber das Ausmaß wird erst im Lauf der Zeit deutlich. Nach sechs oder sieben Tagen zittern die Hände des Babys, nach drei Wochen erschüttern die ersten Krampfanfälle seinen kleinen Körper. In den ersten sechs Monaten geht das Ehepaar Sharif von einem Arzt zum nächsten. Sie machen Tests mit ihrem kleinen Sohn. Angst ist der ständige Begleiter der Eheleute in dieser Zeit. Was für ein Ergebnis wird am Ende der vielen Untersuchungen stehen? Was wird aus unserem Kind?

Die Eltern lernen mit der Zeit, was die Behinderung für ihren Sohn und für sie bedeutet, sie lernen, das Schicksal anzunehmen – und sie wünschen sich, dass die Familie größer wird. Der Chefarzt einer Spezialklinik bei Rosenheim, wo der kleine Shiraz häufig behandelt wird, bestärkt die Eltern in ihrem Wunsch. Ein kleiner Bruder oder eine kleine Schwester würde der ganzen Familie sicher guttun. Doch noch haben die Eltern Angst; erst als ein Gentest zeigt, dass sie kein erhöhtes Risiko in sich tragen, geben sie dem Wunsch nach.

Tatsächlich wird Raza Sharif wieder schwanger, die Eltern freuen sich auf ihr zweites Kind, und wieder ist die Schwangerschaft unauffällig. Allerdings kommt das Baby diesmal vier Wochen zu früh und per Kaiserschnitt auf die Welt. Erst einmal sieht aber auch hier alles ganz gut aus. Doch die junge Mutter bemerkt schon bald, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Arwa ist mittlerweile eineinhalb Jahre alt. Mit sieben Monaten hatte das Mädchen einen ersten epileptischen Anfall. Die Erkrankung ist jedoch bei weitem nicht so stark ausgeprägt wie bei ihrem großen Bruder. Seit sie mit Cortison behandelt wird und die Medikation gut eingestellt ist, hat das Kind auch keine Anfälle mehr gehabt. Inwieweit ihre Mikrozephalie, die unterdurchschnittliche Größe ihres Kopfes, bei ihr dauerhafte Behinderungen zur Folge hat, wird die Zeit zeigen.

Im Moment sind die Eltern glücklich über jeden Fortschritt, den ihre Kinder machen. Shiraz wird jeden Morgen in einen Kindergarten für behinderte Kinder gebracht; Arwa bekommt ebenfalls jedwede Förderung. "Sie ist auf einem guten Weg", sagt auch Sozialpädagogin Pragst, die sich intensiv um die Kleine kümmert – und den Eltern mit Rat und Tat zur Seite steht. Arwa kann mit ihren eineinhalb Jahren inzwischen selbstständig sitzen, und sie beginnt die ersten Worte zu sprechen. "Sie macht schon, aber ganz langsam", sagt ihr Vater. "Man muss Geduld haben."

Geduld – und Kraft. Von beidem haben die Eltern viel, aber die Situation verlangt ihnen doch mehr ab, als sie leisten können. Oft sind sie erschöpft, zumal mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht selten möglich sind, weil Shiraz Schlafstörungen hat. Gelegentlich fahren sie gemeinsam ihre alte Heimat. Vor allem dem Jungen tut das warme Klima gut; er ist dann viel weniger verschleimt. Die Großeltern kümmern sich liebevoll um ihre Enkel. Für Raza Sharif bedeutet das, dass sie endlich mal wieder ausschlafen und etwas Kraft schöpfen kann.

Die Familie lässt sich ihren Optimismus trotz aller Widrigkeiten nicht nehmen. "Wir schauen nach vorne." Manchmal sitzen die Eltern abends zusammen und überlegen, was in ihrem Leben eigentlich alles gut gelaufen ist. Die Beziehung zueinander sei noch viel stärker geworden durch die Herausforderung mit den beiden Kindern, sagen sie. "Wir sind zufrieden."

Für die Zukunft sind sie noch voller Pläne: Faisal Sharif möchte bei den Schwiegereltern ein behindertengerechtes Haus bauen, damit der Aufenthalt dort für alle einfacher wird. Und sie wünschen sich tatsächlich noch ein drittes Kind – sicher kein eigenes, dafür ist die Angst zu groß. Aber sie können sich vorstellen, einen Jungen in ihrem Heimatland zu adoptieren. Denn die Sorge um Shiraz’ Zukunft, wenn sie selber nicht mehr sind, ist groß. Er soll dann einen Bruder haben, der hinter ihm steht.

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