Noch geht fast alles seinen gewohnten Gang

7.12.2016, 15:00 Uhr
Noch geht fast alles seinen gewohnten Gang

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Noch geht fast alles seinen gewohnten Gang

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Eins vorweg. Jane und Roger Winter haben am 23. Juni gegen den Brexit gestimmt und gehören damit in ihrem Distrikt zur Minderheit. 59,2 Prozent waren dort nämlich für den Ausstieg, im ganzen Land waren es 51,9. „Ich war sehr enttäuscht, aber nicht überrascht“, kommentiert Roger, der lange Zeit als Lehrer für moderne Sprachen an Comprehensive Schools (Gesamtschulen) unterrichtet hat, dieses Ergebnis. Brentwood sei ein „blühender“ Distrikt unweit von London, die Leute hätten Arbeit, den meisten gehe es gut. Dennoch hätte die Brexit-Kampagne, die nach Meinung der beiden Engländer nur aus Floskeln und Stimmung machenden Headlines bestand, Ängste ausgelöst in der Bevölkerung.

So beherrschten zwei Themen die Kampagne: zum einen die Immigranten und zum anderen die Kosten, die an die EU zu berappen sind. Es habe keine Erklärungen gegeben, was nach dem EU-Austritt passieren könne. „Das ist den Leuten gar nicht bewusst“, stellt Jane fest. Beispiel Wales: In dem armen Land habe die EU viel reingesteckt, neue Straßen gebaut und die Infrastruktur auf Vordermann gebracht. Und trotzdem sind die Waliser ebenfalls mehrheitlich gegen die EU.

Eine Protestwahl

Die 69-Jährige schüttelt den Kopf und wird ganz energisch: „Die Leute konnten gar nicht wissen, über was sie da abstimmten.“ Ihr Mann fügt hinzu, dass viele Menschen der Meinung seien, dass es sich um eine Art Protestwahl gehandelt habe. Im Königreich herrsche schon seit der Bankenkrise 2008 eine Missstimmung, da immer mehr Sozialleistungen und auch Löhne zurückgefahren werden.

Nach dem Referendum gehe fast alles noch seinen gewohnten Gang. Noch sei man ja auch nicht aus der EU ausgetreten. Doch die Verunsicherung darüber, was passiert, schwelt im Untergrund. Teilweise würden die EU-Gelder, zum Beispiel für die Forschung, nicht mehr fließen, meint Roger. Und auch die Preise für Produkte aus der EU ziehen allmählich an, weil das Pfund rund 18 Prozent an Wert verloren hat. Doch so richtig werde das wohl erst nach dem Weihnachtsgeschäft zu merken sein, und wenn die langfristigen Lieferverträge mit EU-Partnern auslaufen. Selbst inländische Produzenten würden jetzt schon auf diese Preissteigerungszug aufspringen, weiß Jane. So koste die bei den Engländern so beliebte Würzpaste „Marmite“ plötzlich mehr, obwohl sie aus England kommt. Andererseits laufen die Exportgeschäfte besser, vor allem nach USA gehen aufgrund des billigeren Pfunds viele Luxusgüter.

Doch auf längere Sicht, so Roger, werde die Wirtschaft unter dem Brexit leiden, da der Handel mit den direkten Nachbarn in Europa nicht mehr so einfach sein werde. Eine geschwächte Wirtschaft würde zur Folge haben, dass das Land auch sozial schlechter dasteht. Und: „Ich befürchte, dass Großbritannien noch mehr isoliert wird“, sagt der 69-Jährige. Jane geht da noch weiter. Sie hat Angst, dass das Vereinigte Königreich mal auseinanderbricht. „Soll es dann auch wieder Grenzen zwischen Nordirland und Irland geben, wo nach vielen leidvollen Jahren endlich Frieden eingekehrt ist?“, fragt sie.

Es schaut so aus, dass sich der Brexit-Verhandlungen lange hinziehen werden. Jetzt muss erst mal das höchste britische Gericht, der Supreme Court, darüber entscheiden, ob das Parlament dabei ein Mitspracherecht haben soll oder ob die Regierung unter Premierministerin Theresa May in dieser Angelegenheit einen Alleingang durchführen kann.

Aufgrund der komplizierten politischen Situation befürchtet Jane, die viele Jahre eine Führungsposition im Gesundheitswesen inne hatte, dass die Parlamentarische Demokratie im Königreich sich ändern werde. Sie engagiert sich deswegen stark als Mitglied der Labour Partei für Aufklärung und vor allem für soziale Gerechtigkeit. „Das sei so wichtig.“

Trotz aller Enttäuschung wegen des Brexits ist aber auch den EU-Freunden klar: „Die EU ist zu groß und ist zu schnell gewachsen“, sagt Roger. Deswegen gebe es jetzt an vielen Ecken so große Schwierigkeiten.

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