Eine Familie für den schnellen Flüchtling

11.7.2015, 21:00 Uhr
Eine Familie für den schnellen Flüchtling

© Foto: Böhm

Mitku Seboka lacht, zum ersten Mal an diesem Nachmittag. Die Frage scheint ihm zu gefallen. Er sagt: „Vielleicht eins. Vielleicht drei. Vielleicht zwei.“ Er meint: seine mögliche Platzierung bei den deutschen Meisterschaften. „Vielleicht gar nichts“. Und dann lacht er noch ein wenig breiter.

Dem Gespräch tut dieses Lachen gut. Bis zu diesem Lachen verlief es ein wenig schleppend. Wie ein 5000- Meter-Lauf mit einem Sack Kartoffeln auf dem Rücken. Mitku Seboka sitzt am Rand der Tartanbahn auf einer Holzbank und ist nervös, so nervös, dass seine Nasenflügel flattern. Dazu ist es auf der Anlage des TV 1860 Fürth, dort wo schon Olympiasieger, Weltmeister und Weltrekordhalter gelaufen sind, unerträglich heiß. Zumindest für empfindliche Mitteleuropäer. Aber auch Mitku Seboka gibt vor zu leiden. „So heiß wie in Äthiopien“, behauptet er. „Nur geht hier überhaupt kein Wind.“

Äthiopien, Hochland, Land der Läufer, Mitku Sebokas Heimat. Hier hat er als Kind Kühe gehütet, hier ist er jeden Tag viele Kilometer zur Schule gerannt und wieder zurück — zumindest bis zur achten Klasse. Dann ist er Läufer geworden. Wie Mamo Wolde, Abebe Bikila, wie Haile Gebreselassie und Kenenisa Bekele. Dritter der äthiopischen Meisterschaften war er, zweimal und Fünfter. Und jetzt sitzt er in Fürth-Dambach. Warum?

Mitku Seboka lacht nicht mehr. „Politische Probleme“, sagt er, mehr nicht. Nur: political problems. Wie viele in seiner Familie. Über seinem rechten Auge trägt Mitku Seboka eine Narbe, nein, mehr eine Delle, ja, ein Loch. Ist das eine Auswirkung politischer Probleme? Er nickt. Political problems. Äthiopien, eines der ärmsten Länder der Welt, Land von Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen. Wie ist es ihm gegangen in diesem Land? „Nicht gut. Gar nicht gut.“

Böser Vater, gute Familie

Jetzt sitzt er hier in der fränkischen Hitze. Kein bisschen Wind weht durch Dambach. Und trotzdem würde Mitku Seboka am liebsten sofort laufen. Dafür ist er hierhergekommen, erst mit der U1, dann mit dem Bus, eine Stunde dauert das, manchmal länger. Aber es lohnt sich. Anfang Mai wurde Mitku Seboka in Ohrdruf deutscher Meister über 10 000 Meter, 31 Jahre nachdem Christoph Herle dem LAC Quelle Fürth den letzten deutschen Meistertitel über diese Distanz geschenkt hatte. In Äthiopien hätte er Marathonläufer werden sollen, Marathon wird er irgendwann wieder regelmäßig laufen. Die 25 Runden auf der Bahn sind eher ein Sprint. In der Trainingsgruppe von Harald Schmaus, einem einstigen Spitzenläufer über 1500 Meter, der mit und gegen Herle gelaufen ist, kann Mitku Seboka aber mit 400-, 800- und 1500-Meter-Läufern trainieren. „Sie haben Speed. Ich habe keinen Speed“, sagt er. „Das ist gut für mich – und für sie.“

Mitku Seboka wohnt im Asylbewerberheim an der Frankenstraße in Nürnberg. Es geht ihm gut dort. Sagt er und lächelt. Wirklich? „Nein.“ Er wohnt dort mit Männern aus dem Irak, aus Syrien, Äthiopien, Afghanistan, mit Männern, „die trinken und rauchen. Ich rauche nicht und trinke nicht“. Wenn er am Abend vor einem Wettkampf früh schlafen geht, nimmt darauf niemand Rücksicht. In Fürth hat er dagegen Freunde gefunden, „eine Familie“, so sagt er das. Und wenn Harald Schmaus, ein herzlicher Mann ungeschönter Worte streng mit ihm sein muss, weil er kurz vor den deutschen Meisterschaften noch einen Straßenlauf hier oder einen Volkslauf dort laufen will, sagt er: „Böser Vater.“ Und lächelt. Beim LAC Quelle kümmert man sich um Mitku Seboka, sogar einen Sponsor hat der Mann aus Nordafrika, der ihn natürlich nicht direkt bezahlt. Das dürfte er gar nicht. Von dem Geld werden Kleidung, Essen, Trainingslager und ein Deutschkurs finanziert. Am 26. Juli, so gegen 16.30 Uhr, wird er im Frankenstadion dafür vielleicht als einer der ersten Läufer auf die Zielgerade einbiegen. Vielleicht wird er Erster. Vielleicht Dritter. Vielleicht Zweiter. Vielleicht aber auch Vierter – also „gar nichts“, wie er selbst sagt.

In Nürnberg wird er 5000 Meter laufen, ein Kurzsprint. Mitku Seboka muss auf ein schnelles Rennen hoffen. „Dann ist wirklich alles möglich“, sagt Harald Schmaus, sein Trainer. Für eine genauere Vorhersage ist der Rennverlauf zu sehr von den einzelnen Taktiken abhängig – und der Tagesform und dem Mut der Teilnehmer. Am Frankenstadion ist er schon vorbeigefahren. „Ein großes Stadion. Viele Leute.“ Ob er aufgeregt ist? „Nein.“

Eine dumme Frage. Mitku Seboka hat viele Gründe, nervös zu sein. Ein großes Stadion zählt nicht dazu. Er darf Deutscher Meister werden. Einen deutschen Pass hat er nicht. Ob er hier bleiben darf, weiß er nicht. Eine Entscheidung darüber fällt „vielleicht in fünf Jahren, vielleicht in zehn“. Er lächelt. „Oder vielleicht morgen.“

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