Siemens: Die faule Innenseite eines glänzenden Konzerns

16.11.2008, 00:00 Uhr
Siemens: Die faule Innenseite eines glänzenden Konzerns

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Noch heute wird das Gesicht der Menschen blass, wenn sie auf die schlimme Zeit in der Hofmannstraße angesprochen werden. Auf die Zeit der Wut und des Hasses, der Anzeigen und der Prozesse. Und der Plakataktion.

Niedergang der Unternehmenskultur

Die 25 Plakate, die im November 2003 an den Straßen von Obersendling rund um den Siemens-Standort mit der Zentrale der Festnetz-Sparte prangten, waren sichtbares Zeichen für den Niedergang der Unternehmenskultur bei Siemens. Sie diffamierten den Betriebsratsvorsitzenden Heribert Fieber, einen unbequemen IG-Metaller, und sie waren geschaltet worden von Wilhelm Schelsky, dem Bundesvorsitzenden des Arbeitnehmervereins AUB, den der Konzern mit Millionenzahlungen heimlich gefördert hatte.

Der Dammbruch, der all das, was später bei ICN passierte, einleitete, hat um das Jahr 2001 stattgefunden. Da ging der kaufmännische Bereichsvorstand Hans Walter Bernsau in Vorruhestand - auf Drängen von Zentralvorstand Volker Jung, wie Bernsau als Zeuge im ersten Schmiergeldprozess in München aussagte: Bernsau hatte in seinem Bereich mit einstmals 64.000 Mitarbeitern zu wenig Arbeitsplätze abgebaut. «Dr. Jung war unzufrieden mit mir wegen dieses Themas«; also musste er weichen. Sein Nachfolger wurde Michael Kutschenreuther.

Das große Stellenstreichen beginnt

Danach begann das große Stellenstreichen bei der verlustreichen Festnetz-Sparte. 2002 kündigte die Siemens-Geschäftsleitung an, bei ICN weltweit mindestens 16.500 Stellen abzubauen. Die Belegschaft der Hofmannstraße sollte von 12.000 auf 6000 Mitarbeiter reduziert werden.

Die Folge: ein heftiger Streit zwischen den Arbeitnehmervertretern über die Reaktion auf diese Pläne. Der Hofmannstraßen-Betriebsrat mit seinem Vorsitzenden Fieber setzte sich dagegen kompromisslos zur Wehr. Die AUB-Vertreter warfen der IG Metall dagegen eine «Blockadepolitik« aus ideologischen Gründen vor. Die Stimmung schaukelte sich hoch.

Schelsky schaltet die Plakate im Alleingang

AUB-Boss Schelsky regte eine Plakataktion gegen die IG Metall an. Er legte Entwürfe vor, die den AUB-lern von der Hofmannstraße aber nicht gefielen. Das geht aus mehreren E-Mails hervor, die der Redaktion vorliegen. Es gab zwei Kritikpunkte: Die AUB-Betriebsratsmitglieder störten sich an den Sprüchen wie «Fieber, Filz und Führungsschwäche, das haut den stärksten Standort um«, die einen Kollegen öffentlich diffamierten. Sie störten sich aber auch daran, dass sie auf den Plakaten als «Die andere Gewerkschaft« bezeichnet wurden. Denn gerade als Gewerkschaft oder gar Gegengewerkschaft wollten sie sich selbst nie einstufen.

Die AUB-ler der Hofmannstraße lehnten die Aktion ab. Auch der AUB-Vorstand lehnte sie auf einer hitzigen Sitzung in Speyer ab. Jürgen Forstreuther, damals wie heute im Vorstand des Arbeitnehmervereins, erinnert sich noch gut daran. Dennoch wurden die Plakate geschaltet - von Schelsky selbst.

Mit "Blockadepolitik" der IG Metall gerechtfertigt

In einer E-Mail an seine «Freunde« rechtfertigte er das hinterher so: Der Stellenabbau bei ICN sei «im Wesentlichen eine Reaktion auf den berühmten ideologischen IG-Metall-Betriebsrat« gewesen. «Hier haben die in der Mehrheit befindlichen IG-Metall-Betriebsräte in konsequenter Weise eine Blockade-Politik unter dem Deckmantel des Arbeitnehmerschutzes betrieben« schrieb Schelsky. «Tatsächlich aber haben sie den gesamten Standort in einem Umfang gefährdet, der als Ultima Ratio aus unserer Sicht einen solchen Schritt in die Öffentlichkeit rechtfertigte.«

Als Grund dafür, dass sich ihr Vorsitzender damals über alle Vereins-Beschlüsse hinwegsetzte, können sich AUB-Mitglieder heute nur eines vorstellen: Schelsky sei von seinen Geldgebern im Siemens-Konzern zu der Aktion aufgefordert worden. Er selbst bestreitet das. Er allein habe entschieden, die Plakate zu schalten, ließ er aus der Untersuchungshaft auf Anfrage der Redaktion erklären. Er bestreitet sogar, dass es überhaupt einen Streit um die Plakate gegeben hat. Es sei lediglich besprochen worden, sie nicht auf dem Siemens-Gelände aufzuhängen. Daran habe er sich gehalten.

Ein totaler Fehlschlag

Rückblickend war die Aktion ein Fehlschlag: Die Kollegen der Hofmannstraße solidarisierten sich mit der IG Metall. 900 Eintritte verzeichnete die Gewerkschaft in einem Jahr. Außerdem wirkte ihr Widerstand. Siemens ruderte in Sachen Stellenstreichungen zurück. Gleichzeitig wehrten sich Hunderte Gekündigter vor Gericht - und bekamen Recht.

Dennoch wurde es nicht ruhiger um die Hofmannstraße. Siemens hatte bereits im Juni 2003 Fieber und einen Kollegen wegen Prozessbetrugs im Zusammenhang mit Kündigungsschutzprozessen angezeigt. Die Staatsanwaltschaft München ermittelte und bat Siemens um Mithilfe. Die Firma stellte die betriebsratsinternen Daten und die Daten in den Dateien der beiden Angezeigten aus mehr als einem Jahr sicher. Sie leitet sie nicht nur an die Staatsanwaltschaft weiter, sondern las sie selbst und verfasste einen «Auswertungsbericht«.

Siemens hat "rechtswidrig" Daten gesammelt

All das erfuhren die Betroffenen erst 2005. Überhaupt wurde 2005 zum Jahr der Aufklärung: Die Ermittlungsverfahren gegen Fieber und seinen Kollegen wurden mangels Tatverdachts eingestellt. Das Landgericht wertete die Sicherstellung der Betriebsratsdaten als «rechtswidrig«. Das bayerische Justizministerium erklärte schriftlich, es habe ein Missverständnis zwischen Siemens und der Staatsanwaltschaft gegeben.

«Die Durchsicht der gesicherten Dateien durch einen Mitarbeiter der Siemens AG erfolgte eigenmächtig und ohne Auftrag der Staatsanwaltschaft«, schrieb ein Ministerialdirektor. «Ich bedauere die Irritationen, die dadurch entstanden sind, dass die staatsanwaltschaftliche Anordnung der Sicherung von Daten seitens der Siemens AG missverstanden und dort zum Anlass einer Auswertung der betreffenden Betriebsratsdaten genommen wurde. Dies war von der Staatsanwaltschaft nicht beabsichtigt.« Dennoch gab es sogar ein Ermittlungsverfahren gegen eine Staatsanwältin. Doch auch das wurde eingestellt.

Mandatsträger im Ausland geschmiert

Was ebenfalls erst 2005 und noch später ans Licht kam: In all diesen Jahren der Zerfleischung im Kampf gegen den Arbeitsplatzabbau fand bei ICN still und leise ein für einen Weltkonzern noch viel bedeutenderer Skandal statt: Das Schmieren von Mandatsträgern im Ausland zum Ergattern von Aufträgen.

Schon seit 1999 hatte es ICN-Schmiergeldkassen in Österreich gegeben. Das wurde zu heikel, das System musste umgestellt werden. Diese Aufgabe übernahm im September 2002 ICN-Direktor Reinhard S. - nach seiner Aussage mit Billigung des kaufmännischen Bereichsvorstands Kutschenreuther.

Das "kleine Rädchen" ist verurteilt

50 Millionen Euro der Festnetzsparte schaffte S. bis zum Jahr 2004 mit Scheinrechungen von Scheinfirmen auf die Seite, damit aus diesen Schwarzen Kassen in Ländern wie Griechenland, Nigeria oder Russland bestochen werden konnte. S. wurde im Juli wegen Untreue zu einer Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe verurteilt. Das Gericht bezeichnete ihn als «kleines Rädchen im System«. Der Prozess gegen zwei seiner - geständigen - Helfer beginnt am 18. November in München.

Für ihre Anklageschriften hat die Staatsanwaltschaft München aufgelistet, wie sich das Geschäft bei ICN in diesen Jahren veränderte. In diesen Jahren der Bestechung und der wütenden, verletzenden Kämpfe rund um den Arbeitsplatzabbau: Zum Ende des Geschäftsjahres 2001 hatte der Bereich ICN ein EBIT von -861 Millionen Euro. Er schrieb also rote Zahlen bei einem Umsatz von 12,9 Milliarden Euro und mit 51.000 Mitarbeitern.

Ende des Geschäftsjahres 2003 betrug das EBIT immer noch -366 Millionen Euro, der Umsatz war auf 7,1 Milliarden Euro zurückgegangen und es waren nur noch 33.000 Mitarbeiter übrig. Dem folgten 2004 zum ersten Mal schwarze Zahlen: Zum Geschäftsjahresende betrug das EBIT 222 Millionen Euro. Im Oktober 2004 gingen der Festnetzbereich ICN und der Handy-Bereich ICM im Bereich COM auf.