6. Mai 1970: Verbote sind verboten

S. R.

6.5.2020, 07:07 Uhr
6. Mai 1970: Verbote sind verboten

© NN-Archiv

Das Jugendamt der Stadt Nürnberg vertritt die Auffassung, daß der APO-Kinderladen in der Schnieglinger Straße der behördlichen Erlaubnispflicht unterliegt. Es hat deshalb schon Interesse für die sanitären Anlagen des Kinderladens gezeigt. Das Amt bemühte die mittelfränkische Regierung und schließlich auch das bayerische Kultusministerium. Das Ministerium bestärkte die Stadt in ihrer Forderung: „Bei dem APO-Kinderladen I in Nürnberg handelt es sich vielleicht nicht um einen Kindergarten im üblichen Sinne. Er stellt jedoch eine Einrichtung dar, in der Minderjährige für einen Teil des Tages regelmäßig betreut werden (Paragraph 78, Abs. I, JWG).“ Die betroffenen Eltern, die sich in einem „Verein für fortschrittliche Erziehung“ zusammengeschlossen haben, zeigen wenig Lust, um Erlaubnis für den Kinderladen nachzusuchen. In diesem „antiautoritären Kindergarten“ werden etwa zehn Buben und Mädchen zwischen zwei und vier Jahren von ihren Eltern betreut. Diese wechseln sich in ihrer Aufgabe ab. Väter und Mütter wehren sich gegen die behördlichen Auflagen: eine Stadt, die nicht genügend Kindergärten und Personal für ihre Jugend zur Verfügung stelle, habe kein Recht, bei der Selbsthilfe der Eltern Waschbecken und Klosetts zu zählen.

Eine „irre Belastung“

APO-Kinderläden sind umstritten. Auch der antiautoritäre Kindergarten in Nürnberg geht neue, mitunter schockierende Wege. Zwei der Väter stellten sich unlängst in einer Veranstaltung des Evangelischen Sozialinstituts rund 50 Studentinnen und Studenten der höheren Schule für Sozialarbeit. Sie zeigten einen Film aus dem Kinderladen und sprachen über ihre Erfahrungen. Was sind die Eltern? Ein kaufmännischer Angestellter ist dabei, ein Versicherungsvertreter, ein Arbeiter, ein Architekt, eine Innenarchitektin und ein Student. Sie mieteten sich in der Schnieglinger Straße zwei Fabrikräume (100 Quadratmeter) einer Metallgießerei. Monatliche Miet- und Heizungskosten: 250 DM. Doch opferten die Eltern nicht nur Geld. Einer der Väter, Adolf S.: „Unser größtes Handicap war am Anfang die Grundbedingung, daß jedes Elternteil wenigstens einmal in der Woche mit den Kindern zusammen sein muß. Denn der Kinderladen soll nicht nur Aufbewahrungsanstalt sein. Das ist für die Eltern natürlich manchmal eine irre Belastung, aber es muß sein.“

Alle Fenster eingeschlagen

Was die Eltern unter antiautoritärer Erziehung verstehen, wird – besonders kraß freilich – in der Geschichte mit den Fenstern deutlich. Eines Tages diskutierten Eltern und Kindern lang und breit darüber, ob die Kleinen die Fenster einschlagen sollten. Die Eltern rieten natürlich ab, doch die Kinder waren keinem Argument mehr zugänglich. Also ließen die Erwachsenen sie gewähren. Mit Stangen, Hämmern und Brettern schlugen die Kinder alle erreichbaren Glasscheiben ein. Sie gebärdeten sich wie in einem Zerstörungsrausch. Am nächsten Tag war es im Kinderladen ungemütlich kalt. Die Väter hatten die offenen Fensterrahmen nur mit Pappkarton zugenagelt. Sie ließen sich mit dem Einglasen Zeit.

Die Kinder mußten frieren und machten die Erfahrung, daß alles, was man tut, Folgen hat – und durchaus nicht immer gute Folgen. Diese Erfahrung waren den Eltern die Kosten für neue Fensterscheiben wert. Es wurden später auch nie mehr mutwillig Fensterscheiben eingeschlagen. In der antiautoritären Erziehung dieser Eltern werden die Kinder gefragt, ob sie Lust haben, in den Kindergarten zu gehen. Er nimmt seinen Betrieb um 9 Uhr auf, werktags und sonntags. Um 11 Uhr wird gekocht. und dabei kochen die Kinder mit. Für den Speiseetat steuern die Eltern weitere 50 DM bei.

Bemalte Tische und Wände

Früher war es am billigsten, einen leerstehenden Laden zu mieten. Daher der Name Kinderladen. Der erste in Nürnberg wurde in der Bismarckstraße eingerichtet. Er wurde bald zu klein, und so erschloß sich in den ausgedienten Fabrikräumen für die Kleinen ein neues Paradies. Wände, Fußboden, Ofen, alles gehörte den Kindern. Sie tobten sich schließlich mit Pinseln und kiloweise angeschaffter Farbe aus. Der Ofen wurde angemalt, die Wände, die Türen, Tische‚ die ganze Einrichtung.

Sexuelle Tabus

Für die Kinder war eine Zeitlang das Kleiderspiel beliebtester Zeitvertreib. Die Kinder zogen sich aus und wieder an. Sie entdeckten ihren Körper als etwas ganz Natürliches und hätten sich sicher auch nicht geschämt, wenn ein Fremder sie nackt gesehen hätte. Von den so berüchtigten Sexorgien kann bei Zwei- bis Vierjährigen wohl kaum die Rede sein. Die Eltern aber, die übrigens immer zugegen sind, glauben fest, daß ihre Kinder später einmal nicht von Verklemmung und Neurosen geplagt sind. Die Idee eines Kinderladens wurde in Nürnberg geboren, als sich zwei befreundete Ehepaare nach Plätzen in den vorhandenen Kindergärten umsahen. Adolf S. „Mein Sohn war in einer solchen ‚Kinderaufbewahranstalt."

Die Kindergärtnerin mußte sich mit 40 bis 50 Kindern beschäftigen und konnte natürlich auf kaum ein Kind richtig eingeben.“ Die beiden Ehepaare entschlossen sich zur Selbsthilfe und fanden bald Gleichgesinnte. Die antiautoritären Kinderläden stoßen, auf viel Kritik. Die Eltern sind häufig politisch stark engagiert und linksorientiert. In Nürnberg werden die Kinder von ihren eigenen Eltern erzogen. Und eines kann man von diesen Eltern, die zum großen Teil berufstätig sind, nicht sagen: daß sie ihre Kinder vernachlässigen. Sie opfern Zeit, Geld und Nerven und leisten damit oft mehr, als viele ihrer Kritiker für die eigenen Kinder tun.